„Ein Königreich am Seil!“ – LORIT, eine Endzeitoper. Christina Constanze Polzer und Robert Prosser im Interview

Was wäre, wenn die Tourismusindustrie mit ihren Ritualen und in Stein gemeißelten Modellen aus unseren Bergen verschwinden würde?
Mit dieser Frage möchten Komponist Marius Binder, Autor Robert Prosser und Regisseurin Christina Constanze Polzer in ihrer Oper mit fünf Akten auf die Probleme unserer Zeit aufmerksam machen, ohne mit erhobenem Zeigefinger durch die Vorstellung zu führen. Ihre Endzeitoper „LORIT“ greift geopolitische und soziale Themen auf und bringt sie in einem (Gesamt-)Tiroler Kontext unter. Der Tod, dargestellt von Bernhard Wolf, der Fremdenverkehr, dem Manuel Ried Stimme und Gesicht leiht, Gottvater der Seilbahnen, gespielt von Jubin Amiri, Die Schöne Landschaft in Gestalt von Laura Schneiderhan und Die Letzte Generation, verkörpert von Milena Pumberger, – wer kann auf einen Platz in der heiß geliebten Seilbahn hoffen, wer macht das Rennen oder muss das überhaupt sein? LORIT, das Siegerprojekt des von der Stiftung Haydn von Bozen und Trient zum vierten Mal ausgeschriebenen Wettbewerbs FRINGE, besticht mit scharfzüngingen Fragestellungen und der Gewissheit, dass „wir alle im gleichen Boot sitzen“. Zusammen mit dem Drummer Lan Sticker schafft Komponist Marius Binder eine Symbiose zwischen Haydn-Orchester Bozen/Trient und elektronischer Musik. Diese klanggewaltige Kombination lässt das Publikum tiefer und tiefer in das Stück und die Gefühlswelten der Figuren eintauchen.
Wie der Schaffungsprozess verlief, auf welche Herausforderungen Librettist Robert Prosser und Regisseurin Christina Constanze Polzer gestoßen sind und welche Bedeutung gewisse Themen für sie haben, verraten sie uns im Interview.Robert, warum „Lorit“? Was bedeutet dieser Name für dich?
Robert Prosser: Die Idee war, Tirol und die alpinen Zustände gegen den Strich zu bürsten, umzudrehen. Wir nahmen also das Klischee, die Zumutung, die sich unter der Marke „Tirol“ verbergen, und haben sie vom Ende her gedacht: Was, wenn es mit dem Wintertourismus zwangsläufig fertig ist, wie geht es weiter und was würde eine solche Entwicklungen mit den verschiedensten Beteiligten machen?
Hat sich die Oper und deren Aufgabe in unserer Zeit deiner Meinung nach gewandelt?
Robert Prosser: Gewandelt nicht unbedingt, aber auch die Oper bietet die Möglichkeit, sich mit aktuellen Ereignissen und gegenwärtigen Konflikten künstlerisch auseinanderzusetzen. Als Kunstsparte ist sie sehr speziell, durchprofessionalisiert und spricht zudem ein bestimmtes, bürgerliches Publikum an. Dieser genau abgesteckte, etablierte Rahmen lädt selbstverständlich zum Experimentieren ein. Ich denke, man kann das Feld „Oper“ in verschiedenster Weise aus der Komfortzone locken.
In Lorit zeichnest du ein Bild der heutigen Zeit mit all seinen Problemen. Worin lag die Schwierigkeit, diese Themen zu einem Paket zu schnüren?
Robert Prosser: Nachdem es eine auf die Spitze getriebene Auseinandersetzung mit den Problemen ist, denen wir uns im alpinen Raum ohnehin stellen müssen, war das weniger schwierig, als man glauben möchte. Es sind gegenwärtig drängende Fragen – wie umgehen mit Massentourismus, Umweltzerstörung, Ausverkauf, Klimawandel?, – die an sich bereits guten Stoff für eine literarische Beschäftigung abgeben.
Du hast verschiedene Figuren mit verschiedenen Aufgaben und verschiedenen Bedeutungen in dein Stück eingebaut. Welche dieser Figuren gewinnt das Rennen oder muss es ein Verzicht von allen sein, um das angesprochene Thema bzw. Problem irgendwie zu lösen?
Robert Prosser: Ich habe es weniger als einen Wettlauf angesehen. Auch ging es mir nicht darum, am Ende eine Moralvorstellung in den Vordergrund zu rücken. Dazu ist die Gegenwart zu ambivalent. Viele von uns, die in den Alpen leben, leiden mit und durch den Tourismus, ebenso profitieren viele davon. Man muss sich also dazu verhalten, eine Stellung beziehen. Und diese oft auch gegenläufigen Positionen werden in der Oper durchgespielt. LORIT baut auf Massentourismuskritik auf und verstrickt sie dann mit anderen Unterpunkten, wie zum Beispiel Klimawandel, Klimakrise. Glaubst du, dass ohne Massentourismus viele dieser Unterpunkte nicht relevant wären?
Robert Prosser: Relevant bestimmt – aber erst, wenn sie in Relation zum Massentourismus gestellt werden, wird ihre Bedeutung für den Alpenraum deutlich. Durch die Beschäftigung mit lokalen Begebenheiten werden globale Krisen und Entwicklungen weniger abstrakt. Massentourismus beispielsweise lässt sich in ganzer Reichweite erst begreifen, denkt man die Auwirkungen des Klimawandels in den Alpen mit, und andersrum gilt das selbstverständlich auch.
Woran liegt es deiner Meinung nach, dass die Welt so dasteht, wie sie dasteht?
Robert Prosser: Über die Welt getrau ich mich nicht zu urteilen, aber in Bezug auf die Alpen denke ich, dass sich innerhalb kurzer Zeit sehr viel an den Lebensumständen geändert hat, vielleicht viel zu viel. Und dass diese Veränderungen von unterschiedlichsten wirtschaftlichen und politischen Interessen angetrieben worden ist, ohne viel Sinn für Nachhaltigkeit.
Wie zufrieden bist du mit der Umsetzung der Oper? Gibt es im Nachhinein etwas, das du noch gerne eingebaut hättest oder wo du zuerst unsicher warst?
Robert Prosser: Das Libretto, das Schreiben und Dichten in Liedform, war eine Herausforderung, die mir ziemlich Spaß gemacht hat. Und der Schaffensprozess war eine schöne Erfahrung: Die Oper entstand im engen Austausch zwischen mir und Christina Constanze Polzer als Regisseurin und Marius Binder als Komponisten. Die Sänger und Sängerinnen, die Musiker und Musikerinnen fügen nochmals ihre ganz eigene Interpretation und ihr Können hinzu – das fertige Bühnenstück wird einen besonderen Sog entwickeln, dessen bin ich mir sicher.
Wenn wir jetzt nichts ändern, dann …
… ändert die Zukunft zwangsläufig uns.
Christina, warum hast du die Seilbahnen als Metapher für den Massentourismus im Stück eingebaut, welche Symbolik hat sie für dich?
Christina Constanze Polzer: Das Konzept von LORIT war ein kollektiver Entwurf von Marius Binder, Robert Prosser und mir: Während die beiden Tiroler sind, habe ich die letzten vier Jahre in Innsbruck gelebt. Die Bedeutung des Wintertourismus und die Seilbahn als übergeordnetes Symbol dessen, ist hier kaum zu übersehen. Sie steht für uns für ehemals hart erarbeiteten Wohlstand, den anschließenden Schuss über’s Ziel hinaus, Luxus und Überfluss auf Kosten der Natur und auch, bis zu einem gewissen Grad, der Einheimischen. Sie ist die Verknüpfung zwischen einer Chance und deren Ausbeutung. Ein Königreich am Seil!
Gibt es einen Hintergedanken, hinter dem Einsetzen von Figuren für verschiedene Situationen?
Christina Constanze Polzer: Die Arbeit mit allegorischen Figuren entstand aus einem Impuls heraus, aber je länger wir damit arbeiten, desto mehr finden wir, dass die Allegorien unsere Erzählung stützen. Angelehnt an die Tradition der Mysterienspiele, die seit jeher religiös / spirituell und im Mittelalter natürlich stark christlich konnotiert waren, beschäftigt sich auch LORIT mit dem Versuch, das Unverständliche greifbar zu machen. Gerade für Österreich, wo in einer berühmten Stadt seit 1920 alljährlich das wohl bekannteste Mysterienspiel zu Aufführung kommt, ist der Griff zu dieser Erzählform naheliegend. Bei uns haben die Figuren zwar andere Namen, stehen aber auch für das, was uns umtreibt: der Mammon wurde zum Fremdenverkehr, findet sich aber auch im Gottvater der Seilbahnen wieder, der bei uns vor allem für die zum Selbstzweck gewordene Politik steht. Die Letzte Generation hat sich dem Protest verschrieben, aber auch sie gerät auf Irrwege. Die Menge ist gleichzeitig der Tod und betrifft uns alle, gebuhlt wird um die Schöne Landschaft.
Gibt es für dich persönlich einen Ausweg aus der im Stück dargestellten komplexen Misere?
Christina Constanze Polzer: Mit LORIT wollten wir nie Antworten geben, sondern Fragen stellen und unserem Staunen über die Gegenwart Ausdruck verleihen. Robert Prossers Libretto erlaubt es den Figuren, sich unverurteilt nebeneinander zu präsentieren und hebt nie den Zeigefinger. Für mich persönlich ist das vielleicht auch der erste Schritt: nicht vorschnell zu allem eine Meinung zu haben und die Komplexität von Situationen auszuhalten. Ambiguitätstoleranz, eben. Von da aus kann man sich vielleicht in eine Richtung bewegen, ohne zu hart zu verurteilen.
Erlebt werden kann die Oper am Sonntag, 21. Januar 2024, 17:00 im Theater SanbàPolis in Trient und am Dienstag, 23. Januar 2024, 20:00 im Stadttheater Bozen sowie am 11. Februar 2024, 19:30 im Tiroler Landestheater in Innsbruck. Fotos: (1, 4, 5) LORIT © Andrea Widauer; (2, 7) LORIT: Christina Constanze Polzer, Robert Prosser, Marius Binder © David Stöckler; (3) Robert Prosser © Günter Mik (1); (6) Christina Constanze Polzer © Elisa Unger; (8) Illustration © LORIT.