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March 17, 2023

Von einer Freiheit, die nie grenzenlos sein kann

Sarah Caliciotti

Édouard Louis’ Roman „Die Freiheit einer Frau“ berührt, beschäftigt und beklemmt. Er erzählt von der Jugend des Autors im schwulenfeindlichen Arbeitermilieu Nordfrankreichs, von den toxischen Beziehungen seiner Mutter und vor allem von ihr selbst, einer Frau, die sieben Kinder ohne Geld und in ständiger Abhängigkeit großziehen musste. Der Text beinhaltet so viele existentielle Themen, dass es bereits einem Kunststück gleicht, sich hier auf eine Weise auf das Wesentliche zu beschränken, die eine Übersetzung für die Bühne erlaubt. Joachim Gottfried Goller hat diese Herausforderung angenommen und das Stück mit drei Spieler*innen für das Theater Praesent in Innsbruck inszeniert (10.–30. März sowie 06.–21. April 2023, jeweils 20:00).

Drei Figuren befinden sich in den Fängen eines kalten, trostlosen, fast unangenehm hellen Raumes – oder ist es doch nur eine? Sie sehen sich jedenfalls sehr ähnlich mit ihren Hornbrillen und gepflegten Seitenscheitelchen – und ihrem traurigen Ausdruck in den Augen. Es ist ein Ausdruck, der wenig Hoffnung verspricht.

Lukas Gander, Elke Hartmann und Jakob Köhle sind Erzähler*innen und zugleich Sohn, Mutter und Musiker, Poet*innen und nicht zuletzt Analysierende einer Welt, wie sie wirklich ist. Nicht ohne Humor bilden sie jenseits geschönter Darstellungen und Empowerment-Reden ab, was ist, was sein kann und woraus wir doch niemals entkommen.

Ein zentrales Thema in „Die Freiheit einer Frau“ sind Klassenunterschiede. Sind diese deiner Ansicht nach in der heutigen Gesellschaft immer noch so stark vertreten wie einst oder sind an ihre Stelle andere Probleme getreten?

Joachim Gottfried Goller: Leider gibt es das Problem noch immer, aber die Situation hat sich schon geändert. Früher erkannte man die Rechte der Menschen oft schon an der Kleidung, das ist heute nicht mehr so. Klasse als Kategorie ist nicht mehr so extrem sichtbar, man kann mit äußerlicher Erscheinung, Kleidung und Bildung darüber hinwegtäuschen. Aber für die, die darunter leiden, ist es natürlich spürbar. Der Protagonist im Stück erzählt auch, dass er sehr darunter gelitten hat. Er wollte seine Zähne unbedingt ändern, seine Nase operieren, seinen Style ändern, Krawatten tragen usw. Er wollte nicht das weiterführen, wofür seine Eltern standen, sondern zeigen, dass er ein anderer Mensch geworden ist, der zumindest nicht sichtbar aus der Arbeiterklasse kommt.
Gewisse Ungerechtigkeitsstrukturen sind heute sichtbarer geworden als früher. Class, race und gender sind nicht voneinander zu trennen. Das sind drei Komponenten, die sich unter Umständen multiplizieren können – und die Kombination dieser Faktoren führt zu Nachteilen für Menschen.
In den letzten Jahren wurde ein extremes Merkmal auf gender und race gesetzt, was ja auch gut ist. Dadurch ist class etwas in den Hintergrund getreten – das heißt aber nicht, dass es das Problem nicht mehr gibt. Eine Frau ist gegenüber einem Mann benachteiligt – aber eine reiche Frau ist es weniger als eine arme. 

Die Mutter des Protagonisten, um die der Roman kreist, befreit sich gewissermaßen aus den Zwängen dieser Klasse – wie gelingt ihr das?

Im Roman wird es öfter als Metamorphose beschrieben. Der Protagonist war gut in der Schule, ist schwul und hat darüber in gewisser Weise den Ausstieg geschafft, nicht zuletzt weil die Arbeiterklasse ja sehr nach heteronormativen Geschlechtsbildern agiert.
Sie hingegen als heterosexuelle Frau hatte eine völlig andere Lebensrealität, ist recht bildungsfern und arm aufgewachsen, musste bald arbeiten gehen, lernte früh einen Mann kennen, mit dem sie Kinder bekam. Mit 23 hatte sie diesen ersten Mann schon verlassen, weil er sie schlug, und wohnte dann mit ihren zwei Kindern bei ihrer Schwester, sie hatte keine Ausbildung und wollte eigentlich alles anders gemacht haben. Dann begann sie eine neue Beziehung, weil ein Mann in diesem Weltbild die einzige Möglichkeit ist, eine Verbesserung stattfinden zu lassen. Mit diesem Mann bekam sie weitere Kinder. Der Sohn sucht als Teenager schon die Stadt, dadurch ist zwischen ihnen nur noch der Konflikt möglich – sie verhaftet in der Arbeiterklasse, er bei den Intellektuellen.
Irgendwann trifft sie fast aus dem Nichts die Entscheidung, ihren Mann, der ein Alkoholproblem hat und nicht mehr arbeiten gehen kann, zu verlassen und in eine Sozialwohnung zu ziehen. Dann lernt sie wieder einen Mann in Paris kennen, und als die Kinder alle erwachsen sind, beschließt sie, ein neues Leben zu starten.
Dem Autor ist es aber wichtig, die Schwierigkeit der Metamorphose zu zeigen: Weil die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, wie sie sind, sind Menschen in solche Lebensläufe eingesperrt. Das braucht so viel Kraft. Bei der Mutter hat es zum Beispiel über 50 Jahre gedauert, bis sie es geschafft hat, aus diesem Rad auszusteigen.Die Freiheit einer Frau theater praesent Joachim Gottfried Goller (c) Michaela SennSpielt das Thema des Klassismus nicht auch im Theaterbereich eine große Rolle? Sowohl was die inneren Strukturen als auch was das elitäre Bild nach außen betrifft?

Ja, das stimmt. Der Roman ist ja autofiktional, das heißt er agiert mit den echten Personen und trotzdem weiß man nie, ob alles wirklich so passiert ist oder nicht. Gleichzeitig sagt der Autor, er schreibt diese Bücher, um etwas zu verändern. Ich frage mich dann oft: Aber wer liest denn das? Die hauptsächliche Identifikation passiert doch über Menschen, die ein ähnliches Schicksal erfahren haben. So habe auch ich den Zugang zum Autor gefunden: als schwuler Mann aus bäuerlichen Verhältnissen.
Zum Glück macht das Stück am Schluss nicht diesen „Happy-end-turn“, sondern es zeigt deutlich auf, dass es eben nicht so leicht ist, weil eine*n die Vergangenheit einfach immer wieder einholt. Er beschreibt, dass die Konventionen, unter denen man aufwächst, sich in einen Körper einschreiben. Das berührt mich sehr. Zugleich haben wir uns oft gefragt, ob wir nicht in die Falle des Armutspornos treten – mehrere von uns im Team haben zwar aus dem direkten Umfeld heraus Zugang zur Arbeiterklasse, aber niemand kennt es in dem Ausmaß, in dem es im Roman der Fall ist. Also stellt sich die Frage: Warum erzählen wir das?

Hast du eine Antwort? Kann Veränderung auf diese Weise dennoch passieren?

Ich glaube, was sich auch für die Bubble lohnt, ist die Komplexität dieser Situation zu begreifen – dass es nicht nur um Empowerment geht, zum Beispiel. Ich kann im Lotto einen Jackpot gewinnen, aber wenn ich nicht weiß, wie ich mit Geld umgehen soll, ist das sinnlos. Veränderung muss auch nachhaltig gedacht werden, wir brauchen eine Form von Empathie, die uns wirklich weiterhilft. 

Worin liegt der Hauptunterschied zwischen dem Roman und deiner Inszenierung?

Der Körper vervielfältigt sich bei uns. Im Buch gibt es eine Stimme, die zu uns spricht, auf der Bühne sind es drei – zwei Schauspieler*innen und ein Musiker, die zu uns als Erzähler*innen sprechen.
Außerdem ist das Stück eine Übersetzung von unterschiedlichen Textformen. Es ist fragmentarisch in kleineren Blöcken geschrieben: Manchmal sind Szenen beschrieben, manchmal (schein-) soziologische Abhandlungen, Zitate von anderen Autor*innen, Bilder aus der Kindheit des Autors – wie ein collagiertes nachträgliches Tagebuch. Um dies in eine Form zu bringen, die auf der Bühne funktioniert, werden unterschiedliche Spielformen benötigt – von extrem realistischen bis hin zu Erzählpassagen.
Auch die Musik ist eine wichtige Komponente und nimmt ganz unterschiedliche Formen an. Teilweise ist sie selbst Erzählerin, teilweise ganz klare Atmosphärenüberbringerin für realistische Situationen, teilweise ein Vakuum, in dem sich ein Gefühl der Metamorphose formuliert. Alles, was mit Worten nicht formuliert werden kann, kann Musik besser ausdrücken. Zum Beispiel: Ein Schmetterling schlüpft.

Interessantes Beispiel. Und wo lag dein Fokus bei der Inszenierung?

Ich glaube, die Beschäftigung mit meiner eigenen Biografie und deren Untersuchung bietet eine gute Basis, andere Menschen zu verstehen. Nicht indem ich meine mit ihrer vergleiche, sondern indem ich meine genau untersuche. Ich schärfe mein eigenes Nachempfinden durch das Beschäftigen mit der eigenen Geschichte – so kann ich auch Situationen von Menschen trennen. Ich habe mich auf den Versuch des Autors fokussiert, die Metamorphose seiner Mutter zu verstehen. Was auch eine wichtige Rolle gespielt hat, war die Frage, ob ein (schwuler) Mann überhaupt über eine Frau sprechen sollte.Die Freiheit einer Frau theater praesent Lukas Gander Elke Hartmann Jakob Köhle  (c) Daniel JaroschUnd? Sollte er? Und wie bist du überhaupt auf genau diesen Roman gekommen?

Wir haben im Team gemeinsam nach Stoffen gesucht. Ich hab den Autor früh vorgeschlagen und der Text hat dann bei uns allen eingeschlagen und uns sehr berührt. Auch in seiner Genauigkeit und durch das Schaffen von einer Parallele zur Theorie – ohne trocken zu sein.
Wir haben nach Stoffen gesucht, die in einem queerfeministischen Kontext stehen können. Dazu kommt mein Interesse für jemanden, der aus der Perspektive eines schwulen Mannes über eine Frau schreibt. Was auch die andere Frage beantwortet: Für mich ist das wie eine kontinuierliche Beschäftigung, weil ich mich seit jeher mit Frauenfiguren auf der Bühne auseinandersetze. Ich habe mir in den letzten Jahren oft die Frage gestellt, ob ich das noch tun sollte – durch diese Inszenierung wird genau diese Frage für mich auf den Prüfstand gesetzt, weil der Autor diese Frage auch selbst reflektiert und zu einer Antwort kommt, mit der ich mich auch identifizieren kann. Als schwuler Mann befindet man sich in einer Umgebung, in der man nicht unbedingt gewollt wird, weil stets ein gewisser Grad an Homophobie herrscht – man wird vom klassischen Männerbild ausgeschlossen in einer männlich geprägten Gesellschaft. Und Frauen müssen – auch im dramatischen Kanon – stets gegen eine Männerwelt kämpfen. In einen Frauenkörper ist es eingeschrieben, dass er von einem männlich dominierten System unterdrückt wird. Deswegen identifizieren sich viele queere Menschen auch mit Personen wie Madonna oder Cher, weil sie für einen Aufbruch stehen, der sich gegen ihre geschlechtlichen Zuschreibungen richtet. 

Ist es schwierig für dich, dich künstlerisch mit etwas zu beschäftigen, das dir so nahe steht, oder erleichtert es die Arbeit sogar?

Beides! Ich glaube, ich verstehe vieles von dem, womit ich mich hier beschäftige, dadurch sehr gut, und zugleich befürchte ich, dass ich zu sehr reinfalle und es zu emotional wird, weil es eben mit meiner Realität so viel zu tun hat. In diesem Fall kann ich das schwer auslagern. Ein Mann, der in der derselben Zeit ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie ich – das ist irgendwie sehr nahe. Aber ich erzähle jetzt nicht meine eigene Geschichte in diesem Stück.
Ich habe ja alle seine Bücher gelesen und beim ersten hatte ich wirklich das Gefühl, er schreibt meine Lebensgeschichte auf. Mittlerweile habe ich mehr Distanz dazu, weil es jetzt Literatur für mich geworden ist. Die extreme Euphorie ist natürlich weniger geworden, weil man mit jedem neuen Buch die Stilmittel besser erkennt und irgendwann wird es zur Kunst. Das Autofiktionale kann ich dadurch gut annehmen, denn er entscheidet als Autor, was er vergrößert und was er verkleinert, damit es die richtige Wirkung erzeugt – dasselbe mache ich als Regisseur ja auch.
Aber ich finde es grundsätzlich viel schwieriger, Romanadaptionen auf der Bühne umzusetzen, als dramatische Texte, weil das Textmaterial nicht dafür geschrieben wurde, es laut auszusprechen. Also ist es schwierig, zu erkennen, wieviel man aus dem Text mitnimmt, um das Wichtigste zu erzählen und dennoch noch wach zu bleiben. Und bei Édouard Louis ist das Denken so genau und scharf und dicht, dass dieses Gleichgewicht umso wichtiger ist, weil sich andernfalls schnell ein Loch ergeben würde. Dann würden die beiden Figuren Konturen bekommen, die nicht präzise wären. Und das wäre sehr schade.

 

Fotos (1, 3) Die Freiheit einer Frau theater praesent (c) Daniel Jarosch; (2) Joachim Gottfried Goller (c) Michaela Senn.

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