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January 17, 2023

Philipp Gentili ganz informel(l)

Elisa Barison

Immer wieder klagen Menschen in meinem Umfeld über Betriebsblindheit. Deformazione professionale. Verdrossenheit. Wie auch immer ihr dazu sagen wollt. Ein Autor hat die Bücher satt, Kuratorinnen hängen die Ausstellungen zum Hals heraus und Architekten bauen bloß noch Luftschlösser. Dabei scheint der Begriff der Blindheit den Nagel nicht gerade auf den Kopf zu treffen. Ich bin nicht blind. Ich sehe nicht zu wenig. Ich sehe viel zu viel und das ist das Problem.

Ob das einhergeht mit der fortwährenden Rationalisierung unserer Gesellschaft? Kann sein. Jedenfalls gibt es Antidota und eines davon ist noch bis 2. Februar 2023 im Spazio CUT in Bozen zu sehen.Spazio Cut Philipp Gentili (c) Tiberio Sorvillo 4Hier zeigt Philipp Gentili, geboren in Bozen 2001, in seiner ersten Einzelausstellung nehme nicht teil am marathon neue Arbeiten auf Leinwand und Papier. Die Arbeiten sind alle für die Ausstellung entstanden. Eine, die größte davon, entstand sogar in nur drei Tagen, direkt vor Ort, nachdem die Kuratoren der Ausstellung und Gründer von Spazio CUT, Maximilian Pellizzari und Leonardo Cuccia, den jungen Maler eingeladen haben, eine im Raum bereits vorhandene, leere Leinwand zu bemalen. Riesenherausforderung war dies aber keine für Philipp Gentili. Im Gegenteil, er plant nun mehr solche großformatigen Gemälde zu schaffen: „Ich fand es super interessant, weil ich hier nicht nur den Puls einsetzen musste, um Linien zu ziehen, sondern die ganze Hand, manchmal den ganzen Arm.“Spazio Cut Philipp Gentili (c) Tiberio Sorvillo 2

Philipp ist also offen. Und darin liegt wohl das Geheimnis seiner Arbeiten. Im Gespräch mit Maximilian, Leonardo und Philipp selbst versuche ich seiner Praxis einen Namen zu geben. Es fällt der Begriff der informellen Kunst, der in Europa vor allem im Paris der 1940er und 50er auftaucht. Mit den Künstler*innen dieser Zeit hat Philipp das Prinzip der Formlosigkeit gemeinsam. Er beginnt nicht mit der Vorstellung einer gewissen Form oder dem Gedanken an ein gewisses Konzept. Die Bilder haben ihren Ursprung meist in der Mitte der vorliegenden Unterlage, von wo aus Philipp sich Linie für Linie und Punkt für Punkt herantastet. Es gibt keine Umrandungen, ebenso wenig wie Studien oder Skizzen für ein Gemälde. „Vieles in meiner Malerei ist für mich selbst eine Überraschung“, sagt der junge Maler mit der Ruhe und Weisheit eines alten Stoikers. „In der Mitte beginnend ziehe ich die Linien, bis sich eine Form entwickelt, die ich für gut empfinde, und je mehr ich Geordnetes und Geometrisches vernachlässige, umso näher komme ich an das heran, was ich eigentlich zeigen will. Und ich tu dies nicht mal für andere. Je mehr ich male und Formen dabei entstehen, desto mehr Bedeutung finde ich selbst für mich darin.Spazio Cut Philipp Gentili (c) Tiberio Sorvillo 3Spazio Cut Philipp Gentili (c) Tiberio Sorvillo 6Aktuell studiert Philipp Malerei an der Accademia di Brera in Mailand. Dort meint man es gut mit ihm, scheint von seinen Erzählungen durchzusickern. Völlig verständlich, immerhin handelt es sich um einen jungen, jedoch äußerst zielstrebigen und durch und durch kohärenten Studenten, der weiß, was er will, und das schon seit geraumer Zeit (franz hat Philipp schon einmal interviewt, der Titel spricht Bände). Und er kann auch gar nicht anders. Er malt sich die Dinge regelrecht vom Leibe.

Unterbewusstes gelangt durch seine malerische Handschrift, über die Arme, auf die Leinwand. Oder das alte Telefonbuch. Oder aber die Landkarten US-amerikanischer Staaten, ebenso wie Dokumente des Ministero dei Beni Culturali. Letztere formen beide eine Serie in der Ausstellung und haben stets mit Philipps Willen der Unvollendung von Endgültigem und dem Unordnen von Geordnetem zu tun. Die scheinbar mit Lineal gezogenen Staatsgrenzen der USA „löscht“ Philipp mit dickem, schwarzem Pinselstrich aus. Das fac simile des Ministeriums hingegen „befreit“ er durch Collagen und abstrakte Stichtiefdrucke von seiner öden, ewig selben Aufgabe, Werke von kultureller Bedeutung zu ordnen. (Aufmerksame könnten nun den Geruch von Konzeptuellem wittern, aber hier steigt Philipp auch schon wieder aus, sein Fokus liegt auf der Technik, den Linien, den Farben.)Spazio Cut Philipp Gentili (c) Tiberio Sorvillo 5Die einzigen Studien, die Philipp anfertigt, sind jene in seinen Notizheften und Skizzenbüchern. Und selbst diese sind keine Studien im herkömmlichen Sinn, sondern vielmehr Linien und Gesten, die sich langsam zu Formen entwickeln. Formen, die so in unserer Welt nicht vorkommen, nichts nachahmen, immerfort werdend und neu. Manifestiert sich eine dieser Formen des Öfteren auf den unzähligen Unterlagen von Philipps Skizzen, überträgt er sie vielleicht in ein Werk. Überlegungen zu Farben und Gesten stellt er sehr wohl an, auch wenn im Akt des Malens dann oft etwas anderes überwiegt. Philipp spricht von Kairos, der griechisch-mythologischen Vorstellung des günstigen Zeitpunkts für eine Entscheidung, in diesem Fall augenblicklich in eine malerische Geste übersetzt. The wise man strikes again. So genau kann er sich sein Handeln (und Schaffen) aber letztlich auch nicht erklären. Kein Problem, finde ich. Auf dem richtigen Weg ist er allemal …Spazio Cut Philipp Gentili (c) Tiberio Sorvillo 7

Fotos: Tiberio Sorvillo/Spazio CUT

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