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January 16, 2023

Aufruf zum Aufbegehren

Daniela Caixeta Menezes

Es heißt immer: Kunst soll berühren, anregen, etwas mit uns machen, ja sie muss es sogar, damit sie in Erinnerung bleibt. So manche Ausstellung bleibt hinter dieser Erwartung zurück, weil künstlerische Erzeugnisse eben auch immer einen subjektiven Zugang über die reine Vermittlung hinaus erfordern. Unsere Erwartungen als Rezipierende sind gerade dann besonders hoch, wenn die kuratierte Schau sich gesellschaftlich hochaktueller und politisch aufgeladener Themen annimmt. Es ist gewissermaßen die Königsdisziplin anregender Kunst. 

Kunst Meran hat sich mit „Turning Pain into Power“ eben dieser Herausforderung gestellt, „das Potenzial der Kunst wachzurufen und für soziale, politische sowie gesellschaftliche Ungerechtigkeiten zu sensibilisieren“, wie es im Begleittext heißt. Gewiss ein schmaler Grat, denn wie viel museumspädagogische Didaktik und nüchterne Erläuterung verträgt eine Ausstellung, die sich mit den vielen Facetten von Diskriminierung und zivilem Ungehorsam beschäftigen will? Wie die Botschaft der Kunstschaffenden kontextualisieren, ohne ihr ihre Schlagkraft zu nehmen? 02 Regina José Galindo El dolor en un pañuelo, 1999Aber Kuratorin Judith Waldmann nutzt dieses Spannungsfeld geschickt und nimmt uns mit auf eine fulminante Reise durch die Epochen und Schmerzfelder menschlichen Empfindens. Auf vier Etagen begegnen uns Werke von Künstler*innen, die zu uns sprechen und uns tief hineinziehen in die dunkelsten Seiten der Menschheit. Schon bald taumeln wir angesichts der Sogkraft dieser gewaltigen Bilderwelten. 

Da wäre zum Beispiel Adrian Piper, ein afroamerikanisches Urgestein des künstlerischen Protests. Als sie die Rassismuserfahrungen, denen sie in ihrer Heimat immer und immer wieder ausgesetzt ist, einmal satt hat, startet sie 1986 die Reihe „My Calling (Card)“ – Visitenkarten, die im doppeldeutigen Wortsinne auch aufs stete öffentliche Kritisieren (to call somebody out) anspielen und die sie fortan auf Dinnerpartys auslegt. Traurig, aber wahr: Sie haben nicht an Aktualität eingebüßt. Als sie Anfang der 2000er schließlich nach Berlin emigriert, feiert sie ihre Ankunft als „politisch Geflüchtete“ mit einer Tanzperformance auf der ehemaligen Trennlinie von Ost und West. Der Bass scheppert, während sich Adrian ihren neuen Raum strahlend aneignet.Silvia Giambrone Security blanket n.16 + n.4, 2022Oder Silvia Giambrone, die sich in ihrer Arbeit mit Gewalt an Frauen auseinandersetzt. In einem Video ist sie zu sehen, wie sie Geschichten von Opfern häuslicher Gewalt von einem Blatt Papier abliest, bis sich das Papier auflöst und in 1.000 Teile zerbricht. Zerstört wie die Seelen jener Protagonistinnen, deren „Traum“ zum Trauma wurde. Auf der Wand gegenüber hängen ihre kuscheligen „Security blankets“, rosa Kinderdecken bestickt mit Märchenmotiven – und Erste-Hilfe-Hinweisen aus einem Handbuch für Frauen, die vergewaltigt oder misshandelt werden.

Auch Regina José Galindo beschäftigt sich dezidiert mit demselben Thema, indem ihr nackter Körper zur Projektionsfläche von teils erschütternden Zeitungsartikeln wird und die in einem Berliner Park 28 verhüllte Frauenkörper aufstellt – eine für jede Frau, die jede Woche in Guatemala verschwindet. Entsetzt stolpern wir weiter und sind froh um Judith Waldmann, die uns durch die Räume navigiert, denn nicht alle Werke sind derart selbsterklärend wie das von Puppies Puppies.

 12_Puppies_Puppies_Während ich noch wütend bin, warum um alles in der Welt sich eine kunstschaffende Person dauernd für alles Mögliche rechtfertigen muss, wenn es doch in Wirklichkeit die Gesellschaft ist, die da den Spiegel vorgehalten bekommen muss, lernen wir Paulo Nazareth und seinen „Oblivion Tree“ kennen. 437 Mal läuft der Künstler in einem Gegenritual rückwärts um einen dicken Baum in Benin, den im 17. Jahrhundert versklavte Menschen vorwärts laufend hatten umrunden müssen, um im Sinne des Voodoo ihre Identität auszulöschen.

Im letzten Stock lernen wir Philipp Gufler kennen, der auf wunderbar einfühlsame Weise queere Menschen und ihr Leben porträtiert, zum Beispiel das von Lana Kaiser (wer mit dem Namen nichts anzufangen weiß, dem sei die Ausstellung ganz besonders ans Herz gelegt, weil sich an dieser Person gewissermaßen die ganze Komplexität der Bewegung Pain → Power zeigt). Philipp Gufler Kostüm Kakaduarchiv (I), 2022Wir sind am Ende angekommen und ich habe mir meine Finger wund geschrieben, ohne alles wirklich (er)fassen zu können. Turning pain into power: Die von Judith und ihrem Team kuratierte Ausstellung berührt, bewegt, macht wütend, doch auch ein bisschen hoffnungsvoll. Ohne Zweifel ist sie ihrer Königsklasse würdig.

Als ich das Kunsthaus hinter mir lasse, geniere ich mich ein bisschen für meine Erleichterung darüber, angesichts der sich überlagernden Ungerechtigkeiten ein derart privilegiertes Leben führen zu dürfen. Aber Monica Bonvicini leuchtet uns den Weg: „I won’t shut up“, so beginnt Zivilcourage. Seien wir aufmerksam, laut und unerschrocken. Und halten wir’s mit der grandiosen Adrian Piper – tanzen wir einem gerechteren Neuanfang entgegen. 

Fotos: (1) Philipp Gufler, Quilt #26 (Lana Kaiser), 2018; (2) Regina José Galindo, El dolor en un pañuelo, 1999; (3+4) Silvia Giambrone, Security blanket n.16, 2022; Silvia Giambrone, Security blanket n.4, 2022; (5) Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo), I LOOK AT …D, ERASED, FORCED TO HIDE, OR CONSIDERED MENTA; (6)  Philipp Gufler, Kostüm Kakaduarchiv (I), 2022.

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