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December 22, 2022

Esther Strauß – Von Sehnsüchten und Denkmälern

Elisa Barison

Esther Strauß ist tanta roba.
Ihre Arbeiten sind derartig existenziellen Fragen gewidmet, dass sie in ihrer Fülle eigentlich gar nicht wirklich greifbar sind. Das ist Esther bewusst, ja, sie zielt sogar darauf ab, Geheimnisse und Verstecke zu erschaffen – wortwörtlich sogar: 2017 richtet sie an einem geheimen Ort in Tirol einen Unterschlupf ein und stellt diesen, wem auch immer es gelingen möge ihn zu finden, zur Verfügung. Gleichzeitig wird eine exakte Kopie des Verstecks im öffentlichen Raum in Innsbruck ausgestellt. Besucher*innen der Innenstadt können die Kopie des geheimen Verstecks öffnen und sich darin verbergen. (Das Versteck, performative Objekte, 2017). Ein paar Jahre vorher, 2012, entscheidet sich die Künstlerin dazu, vom 1. Januar bis zum 31. Dezember stets mit einer Mappe, gefüllt mit weißen A4 Blättern, herumzulaufen, um damit – sollte sie weinen – ihre Tränen am Papier zu trocknen (2012, performative Zeichnungen, 2012). 

Der einfache, meist für die Öffentlichkeit unzugängliche, performative Akt, steht im Mittelpunkt der Arbeiten und ist gleichzeitig ihr Ausgangspunkt. Doch so simpel und alltäglich die performativen Gesten isoliert auch scheinen mögen, das konzeptuelle Konstrukt dahinter und nicht zuletzt die Reaktionen, die sie hervorrufen können, sind von rarem und einzigartigem Tiefgang. Einfach, sollte es an dieser Stelle dazu noch Unklarheiten geben, meint im Zusammenhang mit Esther Strauß keinesfalls etwas Abwertendes. Vielmehr ist damit die Substanz der Dinge, das bereits erwähnte Existentielle gemeint, um welches wir alle, so bemüht wir auch sein mögen, letztlich nicht drum herum kommen.Das_Versteck_Strauss_EstherNach dem Tod ihrer Großmutter bewahrt die Künstlerin deren Haare in einem einer Urne ähnlichen, verspiegelten Gefäß auf und fertigt für eine Ausstellung zwei weitere Kopien davon an. Nach außen hin verspiegelt, nach innen von Dunkelheit gezeichnet, zwingen die Kuppeln Betrachtende nicht nur sich im Gefäß des (imaginären) Unbelebten zu entdecken, sie stellen auch die Vorstellung und Tradition von Reliquiar in Frage (grandma’s hair / copy of grandma’s hair, 2018). Ebenso um die Vorstellung von Leben, Tod und Erinnerung kreisen die Arbeiten Opa von 2015 und Marie Blum von 2020/21. Erstere resultiert in einer lebensgroßen Fotografie der Künstlerin, in welcher sie nackt, bloß mit Spuren von Erde bedeckt, breitbeinig dasteht. Die Erde auf Esthers Körper stammt vom Grab ihres Großvaters, welcher im Geburtsort der Künstlerin seine Ruhestätte gefunden hat. Nach einem Besuch des Grabes wäscht sich Esther mit jener Erde, die das letzte Zuhause ihres Großvaters darstellt (Opa, Performance-Fotografie Pigmentdruck, 2015). Mit Marie Blum erschafft die Künstlerin ein performatives Denkmal für das gleichnamige Mädchen, welches am 5. September 1943 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau geboren und dort am dritten Tag ihres Lebens ermordet wurde. Sie legt dafür ein Jahr lang den Namen Esther Strauß ab und nimmt den von Marie Blum an. Kein skulpturales Denkmal, kein Stein, erinnern an Marie Blum, sondern ein lebendiges Wesen im Wandel, ein Mensch (Marie Blum, performatives Denkmal, 2020/21).

Im September 2022 erhielt Esther Strauß den Paul-Flora-Preis, 2021 das BMKOES-Staatsstipendium und 2020 den Theodor-Körner-Preis. Seit 2015 lehrt sie Sprachkunst an der Kunstuniversität Linz und präsentierte ihre Arbeiten unter anderem im Sigmund-Freud-Museum in London, im Perdu Amsterdam, der Fabbrica del Vapore in Mailand, dem OK Linz und La Marelle in Marseille. 

Es folgen ein paar existenzielle Fragen an die Künstlerin:

Welche Rolle spielt Sehnsucht in deiner Arbeit? Was bedeutet Sehnsucht für dich persönlich?

Für mich sind sich Kunst und Sehnsucht nahe. Die meisten Kunstwerke entstehen aus einem inneren Auftrag heraus, nicht aus einem äußeren. Jedes Kunstwerk entwirft also nicht nur seine eigene Erzählung, sondern auch einen Menschen, der sich nach ihm gesehnt hat. Ich finde den Gedanken, zu einer Gemeinschaft von Sehnsüchtigen zu gehören, sehr tröstlich. Ich glaube aber nicht, dass Sehnsüchte notwendigerweise dazu da sind, sich zu erfüllen. Vielleicht geben sie uns einfach nur die Hoffnung, die wir brauchen, um ins Ungewisse zu gehen. Kunst zu machen ist auf vielen verschiedenen Ebenen mit Aussetzung verbunden. In meiner Arbeit ist dieses Moment besonders ausgeprägt. Zum einen arbeite ich mit meinem eigenen Körper und oft im Kontext meiner Familie. Zum anderen arbeite ich ohne Probe und setzte jede Performance nur ein einziges Mal um. 2015 habe ich das Grab meines Großvaters mit den Händen ausgehoben und mich mit seiner Erde gewaschen. Wie solche Performances mich und meine Familienbeziehungen verändern werden, ist im Vorfeld nie abschätzbar. In meinem Leben gibt es also wohl zweierlei: die Sehnsucht nach poetischen Wagnissen jenseits von dem, was normalisiert worden ist, und die Sehnsucht nach einer sicheren Basis, die es mir ermöglicht, Risiken einzugehen und die Konsequenzen, die mit ihnen verbunden sind, zu tragen. 

Wie gehst du mit der Gegenüberstellung von „Werk“ und „Dokumentation“ um? Sind sie ein und dasselbe?

Das Schöne an der Kunst ist, dass sie dazu neigt, Kategorien in Schwierigkeiten zu bringen. Ich setze viele meiner Performances in privaten Räumen und ohne Publikum um. Ist eine Performance, die von niemandem bezeugt werden kann, ein Werk? Ist ein Gerücht, das sich um eine Performance spinnt, per se weniger performativ als die Tat selbst? Wenn ich überlege, ob ich eine Arbeit aus meinem Fundus herauslösen und öffentlich machen möchte, dann frage ich mich nicht, ob es sich bei einer Fotografie, einem Text oder einem Objekt um ein Werk oder um die Dokumentation desselben handelt. Ich frage mich, ob die Fotografie, der Text oder das Objekt so viel Kraft und Eigenständigkeit besitzt, dass sie, er oder es ohne mich auskommen kann. Als Bildende Künstler*in bemüht man sich ja immer um Werke, denen man abkömmlich ist. Dass wir unsere Werke im Ausstellungsraum zurücklassen, ist für mich ein konstituierendes Moment unserer Disziplin. In diesem Akt liegt auch eine Zusage: Sind die Werke lebendig genug, können Menschen über sie miteinander Zwiesprache halten, ohne einander je begegnet zu sein.Strauss_Esther 2012Du bist auch kulturpolitisch engagiert. Findest du dich in der Vorstellung der „art workers“ von 1969 wieder oder geht mit künstlerischem Schaffen doch immer eine gewisse Vorstellung von Genie einher?

Die Vorstellung vom Künstler als Genie, die fast ausschließlich entlang männlicher Biografien entwickelt worden ist, empfinde ich als problematisch – und das nicht nur als Feministin. Solchen Biografien wird üblicherweise eine gewisse Schicksalshaftigkeit eingeschrieben, die Kunstinteressierten nahelegt zu glauben, dass einzelne Männer so talentiert und so viel talentierter als alle anderen Künstler*innen ihrer Zeit gewesen wären, dass ihr Werk trotz verschiedener Widrigkeiten gar nicht anders konnte, als sich durchzusetzen. Diese Künstlerbilder verdecken etwas Entscheidendes, nämlich die Tatsache, dass der Kunstbetrieb immer schon über Gatekeeper mit spezifischen Interessen organisiert gewesen ist und dass nicht nur Talent und harte Arbeit alleine, sondern auch verschiedenste Privilegien auf Seiten einzelner Künstler*innen einen Einfluss darauf hatten, welche Positionen sich durchsetzen konnten und welche nicht. Über Machtverhältnisse im Kunstbetrieb wird auch heute noch selten gesprochen. Auch der Umstand, dass der Kunst- und Kulturbetrieb entlang von Konkurrenz und neoliberalen Ausbeutungs- und Selbstausbeutungsschemata organisiert ist, wird selten thematisiert. Das ist umso erstaunlicher, als es durchaus immer wieder kapitalismuskritische Ausstellungen gibt, die ihren Blick aber meist auf andere Felder und nicht auf das eigene richten. Vor diesem Hintergrund schätze ich den Begriff der Kunst- und Kulturarbeiter*in sehr. Zum einen, weil er dazu beiträgt, das, was wir tun, als Arbeit sichtbar zu machen, was für die Fair-Pay-Bewegung von Bedeutung ist. Zum anderen, weil der Begriff auch eine Solidarisierung mit Arbeiter*innen anderer Felder nahelegt, die ich begrüßen würde. Von starker Konkurrenz und schwindender sozialer Absicherung sind in Österreich ja viele Menschen betroffen. Von mir selbst spreche ich aber nach wie vor als Künstlerin. Vielleicht deshalb, weil die Kunst so volatil ist, dass sie uns zu Suchenden macht. Der Begriff Künstler*in liefert sich dieser Volatilität aus. Das reizt mich. 

Der Tod ist ein präsentes Thema in deiner Arbeit. Hast du dich bewusst dafür entschieden, dieses – in unserer westlichen und/oder Tiroler Gesellschaft – tabuisierte Thema anzugehen oder kam es aus persönlichen Ereignissen dazu?

Ich habe mich nicht absichtsvoll entschieden, mich mit Tod, Trauer, Erinnerungsarbeit und dem Denkmalsbegriff zu beschäftigen. Es sind unabhängig voneinander verschiedene Arbeiten entstanden, die diese Felder berühren, und aus dieser Verdichtung hat sich ein Momentum ergeben. Ich glaube aber schon, dass meine Poetik eine Beschäftigung mit diesen Feldern nahelegt. Das, was meine Performances verbergen, ist ebenso wichtig wie das, was sie preisgeben. In meinen Arbeiten stelle ich für mich und für andere Geheimnisse her. Und was ist der Tod, wenn nicht das letzte große Geheimnis?grandmas_hair_Strauss_EstherExistieren wir nur innerhalb von Dualismen? Das Gezeigte und das Versteckte, das, woran wir uns erinnern, das Vergessene …

Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass das Versteckte für mich immer anziehend war. Vielleicht weil wir dort all das aufbewahren, dem wir uns nicht ausliefern können oder wollen. Ich glaube, von dem, was wir verbergen, lernen wir am meisten. Die Frage ist: Wie wenden wir uns ihm zu?

Geht es im Leben letztendlich bloß darum, ob es richtig erzählt wird?

Ich glaube, es geht um mehr. Jedes Leben schafft ja auch Tatsachen oder trägt zumindest zu ihnen bei. Womit ich nicht sagen will, dass Erzählungen weniger manifest wären als Taten. Im Gegenteil. Es ist nicht einfach innere Erzählungen zu verwandeln. Das sieht man gerade im Umgang mit dem Nationalsozialismus sehr deutlich. In Österreich hat fast niemand die Verantwortung für das, was sie oder er während der NS-Zeit getan hat, übernommen. Innerfamiliäre Erzählungen dienen auch heute noch oft dazu, den Blick auf das zu verstellen, was wirklich der Fall gewesen ist. Diese Erzählungen aufzubrechen und die Tatsachen, die hinter ihnen liegen, anzunehmen, ist eine Aufgabe, die uns noch bevorsteht.

Bist du eine andere, seit du für ein Jahr effektiv eine andere warst?

Wie hätte ich Marie Blum sein können? Marie Blum wurde ermordet. Ich habe meinen Namen abgelegt und ein Jahr lang den ihren getragen. Seither versuche ich zu verstehen, welche Verantwortung mir aus Marie Blums Tod und meiner Auseinandersetzung mit ihm erwächst. Ich versuche, ihr gerecht zu werden und zu akzeptieren, dass es Teil dieser Arbeit ist, sich nie sicher sein zu können, ob das gelungen ist. Natürlich hat mich diese Arbeit verändert und sie tut es immer noch. Das hat aber weniger damit zu tun, dass ich meinen Namen für ein Jahr abgelegt habe, sondern vielmehr damit, dass ich versucht habe, Marie Blums Geschichte zu erlauben, meine Geschichte in Frage zu stellen. 

Bestes Buch, das du heuer gelesen hast?

Ich deute es als gutes Zeichen, dass mir diese Entscheidung schwerfällt. Am nachhaltigsten beeindruckt haben mich die Lebenserinnerungen von Agnes Primocic, die unter dem Titel „Nicht stillhalten, wenn Unrecht geschieht“ erschienen sind. Agnes Primocic ist in Hallein geboren und war als kommunistische Widerstandskämpferin zwölf Jahre lang sowohl im Austrofaschismus als auch im Nationalsozialismus im Widerstand aktiv. Sie hat unter anderem mehreren Menschen, die in Hallein in einem Außenlanger des Konzentrationslagers Dachau gefangen gehalten wurden, das Leben gerettet, indem sie das ihrige riskiert hat. Ich habe sehr großen Respekt vor so viel Integrität und Tatkraft.

Deine Pläne für 2023?

Im Moment entwerfe ich für einen geladenen Wettbewerb ein Denkmal in Oberösterreich. Es soll an vier Menschen erinnern, die von den Nationalsozialist*innen im Rahmen der „Euthanasie“ ermordet worden sind. 2023 beginne ich mit der Aufarbeitung des ersten tirolweiten Sammlungsaufrufs für Objekte aus der Zeit des Nationalsozialismus, den ich heuer in Kooperation mit den Landesmuseen initiiert habe. Insgesamt wurden über 500 Objekte abgegeben. Die Auseinandersetzung mit ihnen wird mich über viele Monate begleiten. Parallel dazu geht die Arbeit am performativen Denkmal für Marie Blum weiter. Ob diese Arbeit sich jemals schließen wird, weiß ich nicht. Das ist vielleicht auch gut so. In Österreich ist die Errichtung von Denkmälern zum Nationalsozialismus ja mitunter mit dem heimlichen Wunsch verbunden, sie würden einen Schlusspunkt hinter die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte als Täter*innen setzen. Für mich sind Denkmäler immer erst der Anfang.

Fotos: (1) Esther Strauß, 2020, Foto: Andrew Phelps; (2) Esther Strauß, 2017, Foto: Robert Fleischanderl; (3) Esther Strauß, 2012; Foto: Robert Fleischanderl; (4) Ausstellungsansicht HEXEN, TAXISPALAIS, Kunsthalle Tirol, 2021, Foto: Günter Kresser.

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