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October 18, 2022

„Die Luft ist anders dort drinnen …“

Kunigunde Weissenegger

Ma dai! Wir wären’s doch grad so schön gewohnt gewesen, AUF den Berg zu rennen … äh ja, ich mein eh steigen, und jetzt sollen wir auf einmal IN den Berg? Gefühlte 800 Meter! Unter die Erde! (*Rufzeichen-Emoticon!*) Weil zwei Theatervereine diesseits und jenseits des Brenners beschlossen haben, uns Tiefbau und Buddelung ans Gemüt zu legen. Am einen Ende des Brennerbasistunnels: Dekadenz in Brixen. Am anderen Ende des BBT: Triebwerk7 in Innsbruck. Gemeinsam haben sie WIR: IM BERG produziert, sich tief in den Berg gewagt, Tunnelblick und Glückauf geübt … oder so … 

Der BBT ist zurzeit einfach nicht mehr „sexy“, wie mensch heutzutage (immer noch!) so schön zu sagen pflegt. Und diese Performative Kartierung des Brennerbasistunnels in der Dekadenz (bis 23.10.2022) und später im Triebwerk7 (12. bis 24.11.2022) trägt zu seiner Coolisierung auch nicht wirklich bei … – warum auch? … Anfangs, damals (wann war das noch mal?) haben „wir“ „sie“ noch graben gehört, uns freudig erregt oder froadig gerregt. Jetzt kommentiert’s kein Gigger mehr. Niemand fragt: Warum graben „sie“? (im Auftrag der Republik Österreich, der Republik Italien und der Europäischen Union) oder Wie tief graben „sie“? oder In welche Richtung graben „sie“?  – sie, sie, sie – Wer sind „sie“ überhaupt? 

„Ihr“ „Lobgesang“ auf das Innere des Berges kratzt in den Ohren wie Steinstaub, ist (unter uns gesagt) auch etwas verstimmt … doch Tonlage sagt überhaupt nichts über Gemütslage, über Gegen- oder Fürbitte aus. Andächtig erhebt es sich wie ein Gebet, wenn Autorin Miriam Unterthiner textet, „ja, ich glaube, morgen werde ich hier wieder graben, einfach weitergraben“. Und es macht sich Ratlosigkeit breit: Heilige Barbara! Wie lange denn noch? Das ist ja nicht zum Aushalten. 2028? 2030? … allerdings … kein Ende in … Schicht um Schicht schaben die 4 Schauspieler*innen beziehungsweise und besser gesagt Performer*innen – denn „sie“ singen, tanzen (nicht nur, aber auch zur Musik von Fabian Lanzmaier), klettern, schmettern, verrenken sich, schlenkern Glieder und „Utensilien“ – Daniela Bjelobradić, Sabine Ladurner, Margot Mayrhofer und Philipp Rudig … – Sch… Seil verloren … also: „sie“ schaben Schicht um Schicht frei, nehmen sich anscheinend wichtiger als ein über Jahrmillionen gewachsener Gebirgsklumpen zwischen Nordtirol und Südtirol … 

(*Schreckgesicht-Emoticon!*) … am Ende dieses Abends wird uns beim letzten Blick auf die von Mirjam Falkensteiner getunnelte Bühne sauber bewusst: „Sie“ sind wir!wir im berg dekadenz-049Dramaturgisch die Hebel in der Hand gehalten und Regie geführt hat die eine gefühlte Ewigkeit in Innsbruck lebende Sterzingerin Michaela Senn. Auf ein paar Fragen folgende Antworten: 

… wie macht der Zug?

Tschtschuff tschtschuff tüüüüt tüüüüt. 

… nicht gerade spannend – oder doch? Also warum gleich ein ganzes Theaterstück über den BBT? Geht’s um was anderes … auch? 

Die Ursprungsidee zu diesem Projekt kommt von Anna Heiss. Ich fand diese Idee ungemein inspirierend und das ganze Thema deshalb extrem spannend, weil sich daran so vieles abarbeiten lässt. Wenn du eine Spannung im Sinne eines dramatischen Textes meinst, ist das natürlich eine andere Art, weil die Erzählung vom Tunnel nicht abgeschlossen und dramaturgisch angeordnet ist. Das Spannende am BBT ist für mich, dass sich da etwas ereignet, das teilweise unsichtbar im Gebirge „versteckt” entsteht wir bekommen an der Oberfläche aber nur Spuren davon mit, vor allem über Bilder, die von der Öffentlichkeitsarbeit der BBT SE* vermittelt werden und die ganz viele Erzählungen weiterspinnen (Fortschrittsglauben, Transitprobleme, Tirol-Phantasien usw.). 
Ich würde bei unserem Projekt jetzt nicht von einem Theaterstück sprechen, sondern vielmehr von einer offeneren Form, einer Bestandsaufnahme, der wir das Motto „Kartierung” beigefügt haben, weil wir uns verschiedene Schichten ansehen, wir versuchen etwas freizulegen und damit neue Perspektiven oder Denkräume zu eröffnen. Und natürlich geht es immer bei solchen Großprojekten auch (und vor allem?) um „was anderes” als das Errichten desselben selbst. Zum Beispiel wie demütig wir vor der Erhabenheit der Natur und wie schreckhaft wir vor den technischen Möglichkeiten der Menschheit stehen, die sich die Natur zu eigen macht (den Berg tunnelbar macht, sich des Berges habhaft macht – um ein bisschen aus dem Tunneljargon zu zitieren). 

*SE steht für Societas Europaea, eine länderübergreifende Gesellschaftsform nach europäischem Recht.

Ihr wart ja drin. Welche Stimmung hat euch aus dem Tunnel entgegen geschlagen? 

Ich hab mich wie ein kleines Kind auf den Tunnelbesuch gefreut, weil es lange nicht möglich schien, dass wir eine Führung bekommen. Als wir reingefahren sind, bin ich ganz ruhig geworden. Ich war auf eine ganz eigenartige Weise ergriffen, geflasht, irritiert, aufgeregt und fasziniert. Die Stimmung beschreibe ich am liebsten mit dem Wort „surreal“. Es sind riesige unterirdische „Räume” in merkwürdigem Licht bzw. Dunkelheit, einzelne Baustrahler, einzelne Menschen in irgendwelchen Maschinen. Die Zeit scheint ausgehebelt und ich hatte das Gefühl, alles läuft ein bisschen in Zeitlupe ab. Die Luft ist anders dort drinnen, riecht nach Ammoniak, ist feucht und eine merkwürdige Mischung aus gleichzeitig kühl und warm. 

Wie viele Stimmen hat der Berg? (Wie) haben sie zu euch gesprochen?

Mir ist aufgefallen, dass wir häufig den Berg nur als etwas betrachten, das wir erklimmen können. Vor Kurzem meinte Hans Kammerlander in einem Interview: Der Berg gehört dir erst, wenn du wieder unten bist, davor gehörst du ihm (so in etwa). Aber wenn das anders gedacht wird: Erstens mal „gehört” dir der Berg eh nie und was, wenn du zuerst in ihn eintauchst. In ihn hineinhörst, ihn nicht erklimmst, nicht meinst, dich seiner zu ermächtigen. Das In-die-Tiefe-Gehen betreibt die Menschheit länger als das Berg-Bezwingen, das In-die-Lüfte-Steigen, das Ins-Weltall-Wollen. In der Tiefe/Höhle suchte der Mensch nach Schutz und gleichzeitig stellt das Eingesperrt-Sein in der absoluten Dunkelheit (lebendig begraben) eine der Urängste des Menschen dar. 
Von dem her ist der Berg voller Stimmen, die man nicht hört, die auf mich aber einen Eindruck des Eintauchens in etwas Archaisches, Verschüttetes, Unheimliches und trotz der Unterirdigkeit etwas extrem Überirdisches ausstrahlen. Die Stimmen haben weniger gesprochen, als vielmehr gehallt. Es war weniger ein Hören als ein Empfinden.

Wen habt ihr bei der Recherche sonst so getroffen …?

Wir haben mehrere Recherche-Ausflüge unternommen und mit einigen Menschen sprechen können, die die Öffentlichkeitsarbeit des BBT betreuen. Anna Heiss hat außerdem mit einem Geologen gesprochen, einem Vertreter der BBT-Gegner, mit Bekannten, die irgendwie daran mitarbeiten. Wir haben immer wieder mit Menschen entlang der Tunnelstrecke gesprochen, die das Thema ideologisch oder persönlich betrifft. 

Warum darf Musik nicht fehlen? Wie hast du die Rolle von Fabian Lanzmaier eingebaut?  

Den Sound finde ich extrem wichtig, weil er den (Denk)Raum am deutlichsten spürbar macht. Die Annäherung über den Sound funktioniert über eine unintellektuelle Ebene, die für mich die extreme Spannung, die der Berg durch das Graben, Tunneln entwickelt und ausübt, empfindbar macht. Wenn wir uns vorstellen, welche Last auf den Tunnel drücken („800 Meter Gebirge über unseren Köpfen”), ist das für uns intellektuell nicht fassbar. Solche Aspekte verstärkt für mich die Musik, wie sie ebenso die notwendige Entladung am Ende (des Baues, des Performance-Abends, der intellektuellen Anstrengung) am besten vermitteln kann.
Fabian Lanzmaier ist ein Musiker, mit dem ich schon seit 10 Jahren in verschiedenen Projekten zusammengearbeitet habe. Er hat ein sehr gutes Gespür und zugleich den nötigen kritischen und experimentellen Zugang zu künstlerischen Prozessen. Der Sound bietet auch immer ein paar Haltegriffe, die durch den Abend helfen, dabei aber sehr subtil arbeiten.

Was war der größte Spaß?

Zu sehen, wie alle im Projekt ankommen und sich selbst ihren Raum und Ausdruck schaffen und darin aufgehen. 

Fotos: Andreas Tauber

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