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September 17, 2022

TÒ SU – erforscht Grenzräume und stellt eurozentrisch geprägte Perspektiven in Frage

Kunigunde Weissenegger

Für Transart reisen sie mit umfangreicher Ausrüstung und Crew aus Hamburg an, denn dort leben und arbeiten die beiden seit ihrem Studium an der Hochschule für bildende Künste. Während der Covid-19-Pandemie haben sie sich zu einer noch intensiveren künstlerischen Zusammenarbeit entschlossen: Martina Mahlknecht aus Brixen und Martin Prinoth aus St. Ulrich sind TÒ SU. Mit ihren Projekten liegt es ihnen daran, das Publikum an Grenzräume zu führen und eurozentrisch geprägte Perspektiven zu verlagern.

Von 19. bis 22. September zeigt das Duo, das bereits eine Reihe von wichtigen Preisen und Stipendien aufweisen kann, im Rahmen von Transart im NOI Techpark von 10:00 bis 18:00 OVERSEAS (von 13.–15.10. dann im renommierten Kampnagel, dem Off Spacee in Hamburg): Im gefluteten Becken auf dem NOI-Platz vor dem Ex-Alumix taucht das Publikum in die Geschichten der fünf Seefahrerleben, die von zurückgelassenen Familien, den Arbeitsbedingungen auf Hoher See, dem globalen Warenverkehr, Ängsten, Umwelt- und Klimarisiken, Gemeinschaft und Musik erzählen. Die immersive Installation macht ihrer Bezeichnung Ehre. Und am Donnerstag, 22. September findet im NOI um 17:30 ein Gespräch mit dem Künstler*innenduo statt. Nun das Wort an Martina Mahlknecht und Martin Prinoth… 

Was bedeutet eigentlich TÒ SU?

TÒ SU kommt aus dem Rätoromanischen und bedeutet übersetzt soviel wie „aufnehmen, dokumentieren“. Im Ladinischen bilden die zwei kurzen Wörter die Bedeutung, die im Zusammenspiel entsteht. Das ist ein Aspekt, den wir an diesem Namen sehr mögen. So ähnlich verstehen wir auch unsere Zusammenarbeit. Sie entsteht im Zusammenspiel und im gegenseitigen Austausch.TÒ SU OVERSEAS (c) Mona Rizaj DSC_0141-2 2Wie arbeitet TÒ SU?

Wir arbeiten im Team als Duo in Kollaboration mit Expert*innen aus Kunst, Wissenschaft und Lebensalltag. Daraus entstehen dokumentarische Formen zwischen Film, multimedialer Installation und Performance. Im Zentrum unserer Projekte stehen die Erforschung transkultureller Grenzräume einer globalen Welt, sowie die Auseinandersetzung mit eurozentrisch geprägten Perspektiven und der eigenen kulturellen Identität.

Was sind eure Hintergründe und wie fließen sie in eure Arbeiten ein? 

 

Wir vereinen die beiden Bereiche Dokumentarfilm und Theater. In unterschiedlichen Kollaborationen sind in der Vergangenheit Projekte entstanden, die Hybride aus beiden Bereichen sind und sowohl im Kino als auch im Theater und im Ausstellungsraum präsentiert wurden. Wir stammen beide aus Südtirol und sind zwei- bzw. dreisprachig aufgewachsen. Diese besondere Möglichkeit haben wir an Südtirol immer geschätzt. Grenzgebiet zu sein gehört zur Identität der Region, in der sich ganz besonders die Möglichkeiten zeigen, die in Mehrdeutigkeit und Austausch liegen.  

Abgesehen davon, dass die sechs Seeleute aus dem Inselstaat Kiribati 2021 während der Covid-19-Pandemie nach monatelanger Seefahrt unfreiwillig in einer fremden Stadt und ohne Perspektive auf eine baldige Heimreise in Hamburg festsaßen, was gab den Anlass für die Zusammenarbeit mit ihnen?

Während der Corona-Pandemie haben wir vor allem den Kontakt mit Menschen gesucht, die von der Pandemie besonders stark betroffen waren. Im Sommer 2021 entstand daraus das Projekt „Hack me baby“ in Kollaboration mit Hamburger Jugendlichen, deren Stimmen und Bedürfnisse während der Pandemie sehr einseitig repräsentiert waren. Gleichzeitig haben wir das Schicksal von vielen Mitarbeiter*innen in der Schifffahrt verfolgt. Die Fragilität der globalen Lieferketten wurden in dieser Zeit ganz besonders sichtbar. Unsichtbar blieben dabei jedoch die Schicksale jener Menschen, die fernab von ihren Familien und ohne freie Arbeitstage die weltweite Versorgung mit Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Waren garantieren. Die Seeleute befinden sich im Epizentrum der Globalisierung und sind so Seismografen für globale Krisen.TÒ SU OVERSEAS (c) Mona Rizaj DSC_0150-2Wie aufwändig war die Arbeit an OVERSEAS?

Die Recherche und die Vorbereitungen für OVERSEAS gingen über einen längeren Zeitraum. Wir hatten das Glück, die Seeleute in der Hamburger Seemannsmission am Hafen kennenzulernen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Wir haben uns mit ihnen auf Englisch verständigt. Für die künstlerische Zusammenarbeit und die Gespräche vor der Kamera war es uns aber wichtig, dass sie in ihrer Muttersprache Kiribati miteinander sprechen. Im Moment des Drehens ging es uns nicht darum Wort für Wort zu verstehen, sondern eher um das Herstellen einer Situation, die auch der nonverbalen Ausdrucksweise und den Emotionen Raum gibt. Dadurch entstand eine sehr vertrauensvolle Atmosphäre, die besonders ist und auch der Arbeit anzumerken ist.

Sind die 6 inzwischen wieder auf See oder in Kiribati? – Wo ist das eigentlich …? 

 

Kiribati ist ein Inselstaat im Pazifischen Ozean. Die Atolle sind massiv vom Klimawandel und dem steigenden Meeresspiegel betroffen. In nur wenigen Jahren könnten große Teile der Inseln verschwunden sein, daher gibt es bereits Umsiedelungsprogramme nach Fiji, Neuseeland und Australien. Den Kontakt zu den Seeleuten aufrecht zu erhalten, ist schwierig, da kaum bezahlbares Internet auf den Inseln und auf Hoher See zu finden ist. Bei unserem letzten Kontakt vor einem Monat waren die Seeleute auf Kiribati.TÒ SU OVERSEAS (c) Mona Rizaj DSC_0231-2Was hat sich für die sechs Seeleute durch die Mitarbeit an der Filminstallation verändert?

Es ist uns wichtig, dass jede*r während des Prozesses der Kollaboration einen persönlichen, positiven Mehrwert erfährt. Was das Projekt betrifft, scheint es uns wichtig, ein Bewusstsein für die unsichtbaren Mechanismen und globalen Auswirkungen unseres Handelns zu schaffen und zur Diskussion zu stellen. 

Welche Connection gibt es thematisch zu Transart bzw. Südtirol? 

Anders als Hamburg ist Bozen keine Hafenstadt, doch prägen die Lieferketten von Süd nach Nord und Nord nach Süd auf massive Weise auch die Identität des Landes Südtirol. Die Nahrungsmittel, Rohstoffe, Waren, die per Container- oder Frachtschiff in den Häfen Europas ankommen, werden per LKW über die Autobahnen in die EU-Länder weitertransportiert. Die Brennerautobahn ist dabei die wichtigste Transitroute zwischen dem Norden und dem Süden Europas. In postindustriellen Wirtschaftssystemen produzieren wir nicht mehr selbst – wir kaufen, und so kommen mittlerweile 90 % der Gegenstände unseres alltäglichen Bedarfs per Container- und Frachtschiff zu uns, seien es die Kleider die wir tragen, der Treibstoff in den Autos oder unsere Lebensmittel. Auch freuen wir uns als Südtiroler Künstler*innen unsere Arbeit zum ersten Mal bei Transart zeigen zu können, einem Festival das die mediale und transdisziplinäre Grenzüberschreitung sucht. Als Künstler*innen, die zwischen den Genres arbeiten, fühlen wir uns hier sehr gut aufgehoben.

OVERSEAS ist der 1. Teil einer Trilogie … was folgt?

Für OVERSEAS Teil 2 recherchieren wir zu den Arbeitsbedingungen auf Kreuzfahrtschiffen. Die Kreuzfahrtindustrie gehört zu den am stärksten wachsenden Tourismusbranchen der Welt, eine Tatsache, die vor allem mit der Beschäftigung von Niedriglohnarbeiter*innen aus sogenannten Schwellenländern zusammenhängt. In einem dokumentarischen XR-Film wollen wir ihren Geschichten und Lebensrealitäten nachspüren. Der dritte Teil der Trilogie bleibt noch unser Geheimnis …OVERSEAS (c) TÒ SU film still

Fotos: (1–4) (c) Mona Rizaj; (5) OVERSEAS (c) TÒ SU film still

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