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November 20, 2021

„Valentina war eine Kämpferin“: Federico Campana im Interview

Eva Rottensteiner

Der Tod (20.11.2020) von Valentina Pedicini hat ein tiefes Loch in die Welt der italienischen Dokumentarfilme hinterlassen. Ihre Filme „Pater noster“ (2008), „Mio Sovversivo Amore“ (2009) und „My Marlboro City“ (2010) erzählen Geschichten über italienische Sekten, die letzte italienische Bergarbeiterin oder ein eugenisches Programm in der Schweiz erzählen. Die italienische Regisseurin aus Brindisi (*6.4.1978) hat in Rom italienische Linguistik studiert und in Bozen die ZeLIG – Schule für Dokumentarfilm, Fernsehen und neue Medien besucht. Für ihre Arbeit wurde sie auf verschiedenen Filmfestivals ausgezeichnet. Mit „In memoriam Valentina Pedicini 1978–2020)“ erinnern der Filmclub und die ZeLIG an ihr filmisches Vermächtnis. Komponist und Filmemacher Federico Campana hat mit ihr für ihren letzten Dokumentarfilm „Faith“ zusammengearbeitet. Er lebt in Bozen und arbeitet mit verschiedenen Medien und künstlerischen Genres, komponiert Musik für Film, zeitgenössische Musik und digitale Multimedia-Performances. Seine Kompsitionen sind in Italien, Österreich, Argentinien, Kroatien und Deutschland aufgeführt worden.

Was waren deine Gedanken, als du die Musik für „Faith“ komponiert hast? Welche Emotionen wolltest du vermitteln?

In „Faith“ koexistieren mehrere Schichten von Musik sehr unterschiedlicher Natur. Die erste Ebene ist die Musik, die zu den Protagonisten des Films gehört: Es ist die Musik, die sie in ihrem täglichen Leben hören. Oft ist es Technomusik, sehr hart und kratzig, oder Orchestermusik aus einem Hollywood-Film, die sie brauchen, um sich für ihre Trainingseinheiten „aufzuputschen“. In dieser Musikebene habe ich vieles rekonstruiert, von Deep-House-Tracks bis hin zu Chören mit einem großen Orchester, wobei ich „Stilkopien“ geschaffen habe, welche die Klangwelt der Protagonisten so weit wie möglich respektierten. Es gibt auch eine zweite Ebene von Musik, die zum Film selbst „gehört“. Es ist, als wäre diese Ebene die Stimme des Films selbst. Es ist eine Musik, die, obwohl sie dezent oder fast unhörbar ist, dazu dient, den dünnen und zerbrechlichen Faden der Erzählung am Leben zu erhalten. Ein unsichtbares Beziehungsgeflecht zwischen Szenen und Einstellungen, das jedoch das magische Gefühl des filmischen Erzählens erzeugt. Es ist ein schwer zu fassender Faden, denn er beruht auf unausgesprochenen Worten, auf der verborgenen Bedeutung einer bestimmten Einstellung oder auf einem nicht zu entschlüsselnden Blick einer Figur, aber er macht den größten Zauber des Films aus.
Die Emotion, die ich zu vermitteln versuchte, war daher ein Gefühl von leichter melancholischer Süße, manchmal rau, distanziert und intim zugleich, ein Gefühl, das im täglichen (musikalischen) Leben der Protagonisten nicht vorhanden ist, aber im Film als Ganzes latent vorhanden war. Das abschließende Wiegenlied, zum Beispiel, begleitet die Zuschauer*innen aus dem Film hinaus mit dem Versprechen einer intimen, melancholischen Süße, die im Gegensatz zu dem rauen elektronischen Track steht, mit dem das Werk beginnt. Es ist eine Art sentimentale Verwandlung der allgemeinen Stimmung des Films; eine dramaturgische Entwicklung auch unter musikalischen Gesichtspunkten.Federico Campana (c) Giulia Levi

Wie läuft dein Arbeitsprozess ab?

Er beginnt mit einem ausführlichen Gespräch mit dem*der Regisseur*in des Films: über die Geschichte, die Beziehungen zwischen den Figuren, den tieferen Inhalt des Werks. Auf diese Weise kann ich mir ein Bild von der allgemeinen Atmosphäre des Films machen. Der Geschmack, den er haben sollte. Dann, mit dem Eintreffen der ersten Pre-Edits, werden in Absprache mit dem*der Regisseur*in die Abschnitte des Films ausgewählt, die einen musikalischen Kommentar benötigen. An diesem Punkt versuche ich, vom*der Regisseur*in genauer zu verstehen, welche Atmosphäre in dieser bestimmten Szene herrscht und welche Bedeutung sie in der Gesamtdramaturgie des Films hat. Nach reiflicher Überlegung beginne ich mir Klänge oder Texturen vorzustellen – als Träger von Emotionen oder Farben für eine bestimmte Szene. So beginnt ein Moment des Experimentierens, in dem ich aufnehme, sample, musikalische Ideen skizziere und sie mit den Bildern umsetze. Nach der Erstellung von Entwürfen für die Tracks bittet der*die Regisseur*in oder Redakteur*in manchmal um Änderungen, um einen bestimmten Moment herunterzuladen oder zu vertiefen. In einigen Fällen können die Veränderungen sehr radikal und kreativ sein. Es ist ein wunderbarer Prozess, bei dem alle Beteiligten an der Schaffung von etwas beteiligt sind, das es vorher nicht gab. Es ist eine echte Zusammenarbeit, um den Film so spannend wie möglich zu machen – den bestmöglichen Film. Nachdem die Musik fertiggestellt und vorgemischt wurde, wird sie in den endgültigen Mix eingearbeitet. Der Live-Einsatz und das Sounddesign in Verbindung mit der Musik müssen eine besondere Mischung ergeben, die sehr heikel zu handhaben ist: Es ist der Dialog zwischen all den visuellen und akustischen Elementen, die den großen Wandteppich der Erzählung ausmachen. Wenn etwas fehl am Platz ist, ein Geräusch, das zu offensichtlich ist, eine Musik, die zu laut ist, kann das Gleichgewicht der Erzählung gestört werden, was zu Bedeutungsverlusten führt, die ebenfalls sehr offensichtlich sind und dem Film manchmal schaden. Es ist ein langer, manchmal mühsamer, aber ungemein kreativer Prozess, der große künstlerische Befriedigung bringen kann.

Erzähl uns von deiner ersten Begegnung mit Valentina Pedicini …

Valentina und ich lernten uns zu einem besonderen Zeitpunkt in unserem Leben kennen: Valentina hatte gerade die Zelig-Schule für Dokumentarfilm abgeschlossen, während ich gerade aus Wien zurückgekehrt war, um in Bozen zu leben. So lernten wir uns kennen, in einem gemeinsamen existenziellen Moment, und wir wurden sofort sehr enge Freunde. Unsere Beziehung hat sich im Laufe der Jahre entwickelt, durch Filme, die wir zusammen gemacht haben, oder ganz einfach aus gemeinsamen Momenten aus unserem Leben: von Sommerurlauben bis zu Geburtstagen oder langen Diskussionen über zukünftige Projekte oder Filme, die wir gesehen haben.

Wie war die Arbeit mit ihr?

Die Arbeit mit Valentina war großartig, denn obwohl sie eine sehr klare Vorstellung vom Geschmack des Films und von der Richtung hatte, die sie ihm geben wollte, ließ sie mir große kreative Freiheit. Es gibt Einschränkungen, die von der Art des Films, des Schnitts oder der Produktion abhängt, aber Valentina war nie zwanghaft oder unnötig pingelig. Sie hatte großen Respekt vor der Arbeit eines anderen Künstlers. Es ist eine wunderbare Voraussetzung, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der das Geheimnis deiner Arbeit und das Unerklärliche, das du dem Film geben kannst, grundsätzlich respektiert. Valentina war fasziniert von der geheimnisvollen Magie, die zwischen Bild und Musik entstehen kann, von dem, was das Kino letztlich ist.

Was ist deiner Meinung nach das Vermächtnis von Valentina Pedicini im Dokumentarfilm?

Valentina war eine Kämpferin, die für eine Stimme in der Welt des Films und für eine sehr reine Idee des Kinos kämpfte – die leider immer weniger Platz in unserer Welt hat, die von standardisierten Film-„Produkten“ und Produktionslogiken beherrscht wird und wenig wirtschaftlichen Spielraum für den persönlichen Ausdruck eines Autors lassen. Der menschliche und künstlerische Verlust lässt sich nicht in Worte fassen. Viele haben sie geliebt, weil sie eine Person war, die sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen nie geschont hat, so wie sie sich auch in den Filmen, die sie gemacht hat, nie geschont hat. Ihr Leben war das Filmemachen und sie hat für diese Filmwelt viel geopfert. Was sie uns mit auf den Weg gibt, ist die Idee, dass es möglich ist, Filme mit einer Idee des reinen Kinos zu machen – auch wenn das System manchmal feindselig, wenn nicht geradezu antithetisch gegenüber Werten ist, die ein wahres Filmwerk mit sich bringt. Wenn eine bestimmte filmische Vision einen starken, authentischen und innovativen Inhalt hat, wird sie früher oder später ihren Platz in der Welt finden.

An welchem Projekt arbeitest du gerade?

Zurzeit führe ich Feldforschungen für einen Dokumentarfilm durch, der die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt mit rein kinematografischen Mitteln thematisiert. Ein Thema, das mir im Moment sehr am Herzen liegt. Ich bin nicht nur Komponist, sondern auch Filmemacher. Ich habe viele Jahre damit verbracht, die geheime Alchemie der Welt der Musik zu studieren. Ein unersetzlicher Weg für meine künstlerische und persönliche Entwicklung, aber in den letzten Jahren habe ich ein anderes Bedürfnis verspürt. Ein tiefes Verlangen, meinen besonderen Blick auf die Welt der gefilmten Bilder zu richten. Vielleicht kann allein die Tatsache, eine bestimmte Art von Blick zu besitzen, in bestimmten Fällen zu einem echten filmischen Werk werden.

Photo Credits: Giulia Levi

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