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September 18, 2021

Beziehungskonstellationen der psychologischen Therapie in Geschichten übersetzt: Anna Felnhofer, Tumler-Literaturpreisträgerin 2021

Kunigunde Weissenegger

Aufgefallen sind mir in ihrem Lebenslauf ihre Sprachkenntnisse (5 lebendige Sprachen + 1 antikere) und der Punkt „Graphische Gestaltung“, unter dem sie 2019 Künstlerische Beratung beim Dokumentarfilm „Liebe ist stärker als der Tod“ nennt. Außerdem fasziniert mich die Tatsache, dass sie als Klinische Psychologin wissenschaftlich publiziert und 2021 einen ersten Roman vorgelegt hat: Mit „Schnittbild“, erschienen im Wiener luftschaft Verlag, ist/war Anna Felnhofer für den Laaser Tumler-Literaturpreis nominiert und hat ihn (gestern Abend, 17.9.2021) gewonnen und überreicht bekommen.

Außerdem nominiert waren Hengameh Yaghoobifarah mit „Ministerium der Träume“ (Publikumspreis 2021), Mischa Mangel mit „Ein Spalt Luft“, Romina Pleschko mit „Ameisenmonarchie“ und Yulia Marfutova mit „Der Himmel vor hundert Jahren“.

In „Schnittbild“ geht es um Vielgestaltigkeit, Aufnahmen, Augenblicke, Abhängigkeiten, Abschiede, Wiedersehen … „Da ist der weite, hohe Himmel, da sind seine durchlässigen Farben, man weiß, es ist eine Illusion, dass oben wirklich oben ist, aber er will daran glauben.“

Ich hab Anna Felnhofer vor ein paar Tagen ein paar Fragen stellen dürfen …

Was hat dich dazu getrieben oder inspiriert, „Schnittbild“ zu schreiben? 

Insbesondere waren für mich konflikthafte, unscharf definierte bzw. missbräuchliche Beziehungskonstellationen in der psychologischen Therapie von Interesse, zumal die darin vorkommenden Grenzüberschreitungen – und seien sie noch so subtil – dramatische Konsequenzen für beide Seiten haben können. Überspitzt gesprochen: Eine Person gibt alles von sich preis, die andere nichts. Und wie das dem Text vorangestellte Zitat von Ingeborg Bachmann besagt: Wenn jemand alles ist für einen anderen, dann kann er viele Personen in einer Person sein. Dies in Geschichten zu übersetzen, die über das Einzelfallhafte hinaus- und auch jene etwas angehen, die zur Psychologie bzw. Psychotherapie keinen Bezug haben, hat mich zu „Schnittbild“ inspiriert.

Wie viel Realität verträgt eine Geschichte? 

Ich bin überzeugt, dass wir alle zu unserem Leben eine Geschichte erfinden, die mehr oder weniger wahr ist. Aber wesentlicher als die Frage nach dem Realitätsgehalt der Geschichte ist, ob wir selbst und andere daran glauben.  

Ich lese es gerade … Wann kommt die Schlüsselszene …?

Da muss ich wohl enttäuschen: Diese eine Schlüsselszene gibt es in „Schnittbild“ nicht, eher viele kleine Schlüsselszenen, die, zusammengenommen, ein Gesamtbild ergeben. Generell hält sich der Text eng an Max Frisch, der schreibt, dass gerade die enttäuschenden Geschichten, die keinen rechten Schluss haben und also keinen rechten Sinn haben, lebensecht sind.

Wie sollte das Buch denn gelesen werden? War von Anfang an ein Episoden-Roman geplant?

Ja, von Beginn an war geplant, das Thema auf mehrere ProtagonistInnen aufzuteilen, um so der Annahme entgegenzuwirken, dass es sich bei Grenzüberschreitungen bzw. Abhängigkeiten in therapeutischen Beziehungen lediglich um Einzelfälle handle. Vielmehr wollte ich die Bandbreite diverser Übertretungen und der davon Betroffenen aufzeigen und zugleich eine zusammenhängende Geschichte erzählen. Und so steht in dem Buch jeder Handlungsstrang mit einem anderen in Beziehung und die Figuren sind, wie Rahel in der Episode Mohn reflektiert, unausweichlich miteinander verflochten: Was die eine beginnt, setzt die andere fort. 

Warum überhaupt „Schnittbild“? Und warum die Episodentitel „Milch“, „Mohn“, „Minze“, „Marzipan“?

Der Titel ist von einer Methode der medizinischen Diagnostik inspiriert, den sogenannten bildgebenden Verfahren (MRT, CT). Diese fertigen vom Körperinneren Bildschnitte an, die jeweils für sich stehen können, aber erst in der Zusammenschau eine Diagnose erlauben. Als solches spiegelt der Titel auch die Form des Textes wider. So bieten die Kapitel scheibchenweise Informationen zur Person der Psychologin, die am Ende gemeinsam betrachtet ein Begreifen ermöglichen. Ebenso stellen die einzelnen Episoden gleichsam einen Querschnitt durch eine therapeutische Beziehung dar, von der ersten Begegnung, über die Vertiefung, Verfestigung der Beziehung, bis hin zum Abschied und Wiedersehen nach Jahren.
Milch, Mohn, Minze und Marzipan sind eine kleine Spielerei, die ich mir erlaubt habe, wenn auch nicht ganz ohne Zweck: Sie bezeichnen jeweils jenen Punkt, an dem in der jeweiligen Episode die/der PatientIn zum ersten Mal mit der Psychologin in Kontakt tritt.

Wenn man dich im Internet sucht, findet man im Moment mehr über dich als Wissenschaftlerin und Klinische Psychologin anstatt als Autorin. Wie und wo überschneiden sich die beiden Bereiche?

Oberflächlich betrachtet stehen die Wissenschaft und die Literatur in Konkurrenz, graben sich das Wasser ab, schließen einander gar zeitweilig aus. In Wahrheit aber könnte ich weder ohne die eine noch ohne die andere. Einzig das Problem der Zeit, die beide berechtigterweise für sich beanspruchen, bleibt für mich noch zu lösen. 

Du hast dich auf Kinder- und Jugendheilkunde spezialisiert. Welchen Grund gibt es dafür? 

Das war, wie vieles, reiner Zufall. Nach Abschluss des Doktorates habe ich die praktische Ausbildung zur Klinischen Psychologin an der Uni-Kinderklinik absolviert, wo zeitgleich eine Forschungsstelle an der Pädiatrischen Psychosomatik frei wurde. Da habe ich gleich zugeschlagen. 

Schon mal überlegt, wer bei einer Verfilmung von „Schnittbild“ Regie führen und wer die Hauptrollen spielen würde?

Gute Frage. Überlegt habe ich das bislang nicht, aber ich werde sicherheitshalber mal damit anfangen … ; – )

Welche Geschichte möchtest du unbedingt noch schreiben?

Diejenige, die ich gerade zu schreiben begonnen habe. Es ist ein Stoff, der mich schon länger begleitet und in dessen Mittelpunkt ein Mensch steht, der blind ist für sein Gesicht wie auch für die Gesichter anderer.

Wer ist eigentlich Eva …?

Eva, der das Buch gewidmet ist, ist meine Schwester. 

Anna Felnhofer, Jahrgang 1984 in Wien, studierte in Wien und Warschau Psychologie und promovierte 2015, arbeitet als Wissenschaftlerin und Klinische Psychologin an der MedUni Wien. Sie gründete und leitet ein Virtuelles Realitäts-Labors und die internationale wissenschaftliche Zeitschrift „Digital Psychology“. Felnhofer hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht und drei Lehrbücher herausgegeben. Parallel dazu tritt sie bei literarischen Lesungen auf und veröffentlichte unter anderem im „Podium“, „Sterz“, „Am Erker“, in „Konzepten und Lichtungen“. Beim FM4-Wortlaut-Kurzgeschichtenwettbewerb 2018 war sie auf der Shortlist platziert und bekam beim Emil-Breisach-Literaturpreis 2020 der Akademie Graz den 2. Platz zugesprochen.

Foto: (c) Nina Rechnitzer/luftschaft

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