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September 16, 2021

„Knurrenden Lesben gehört das Universum.“ – Hengameh Yaghoobifarah

Eva Rottensteiner

Eigentlich ist Nas Türsteherin in Berlin, doch als ihre Schwester Nushin bei einem Autounfall stirbt, übernimmt sie die Vormundschaft für ihre Nichte Parvin. Der plötzliche Verlust wirft nicht nur gegenwärtige Fragen auf, sondern spült auch alte, schmerzhafte Erinnerungen von Nushins und Nasrins Kindheit und Pubertät hoch. Autor*in Hengameh Yaghoobifarah nimmt die Lesenden mit auf eine Reise durch die deutsche Zeitgeschichte. 

„Ministerium der Träume“ erzählt von Verlust, mangelnder Zugehörigkeit, Queerness, Nazis und der Mittäterschaft der staatlichen Institutionen, aber auch von Gewalterfahrungen, dysfunktionalen und ausgesuchten Familien, deren Generationen und von Trauma. Und da ist immer wieder diese pinke Telefonzelle. Den historischen und gesellschaftlichen Rahmen bilden die Baseballschlägerjahre, eine Zeit, geprägt von rassistischen Anschlägen und Nazi-Aufmärschen im Deutschland der 90er Jahre. Mit dem Roman hat Hengameh Yaghoobifarah nicht nur ein literarisches Denkmal für alle migrantischen Gangs geschaffen, die den Nazis getrotzt und ihre Communities geschützt haben, sondern auch einen Nerv getroffen. Halle, Hanau, Chemnitz, NSU: Hoyerswerda ist immer noch überall. Daran hat sich auch 30 Jahre später wenig verändert.

„Ministerium der Träume“ gibt aber auch Einblicke in queere Spaces und die eigene Community als Ort des Zusammenhalts, ob bei den Mülltonnen auf dem Schulhof, wo migrantische Kids sich gegenseitig Selbstverteidigungskurse geben, oder die queere Genossinnenschaft in der Bar auch mal finanziell unter die Arme greift. In diesen Roman taucht man so tief ein, dass man die Zigaretten im eigenen Mund schmeckt, wenn Nas mal wieder panisch zu viele geraucht hat, obwohl sie schon lange keine mehr mag. Die Figuren durchleben viele Formen der Gewalt, doch Yaghoobifarahs Protagonist*innen sind keine Opfer. Sie sind schlagfertig und wehren sich, wenn auch manchmal nur im Kopf. Der Roman widersetzt sich in der Erzählweise und dem Aufrufen von Bildern jeglicher deutschen Leitkultur und Heteronormativität. Auf teils satirische Weise deckt Hengameh Yaghoobifarah eine deutsche Welt auf, in der es vor Double-Standards nur so wimmelt, in der sich die spießbürgerliche Nachbarin über eine Familiengrillfeier beklagt und lieber ihren Böhse-Onkelz-grölenden Söhnen zuhört. In der besorgte Annikas mit Sperma-Augenbrauen Angst davor haben, dass ihre Töchter auf Klassenfahrt „lesbisch werden“, aber den Berliner CSD eh toll finden. In der die Polizei als Schutzorgan und Ordnungshüter gepriesen wird und wegschaut, wenn Jugendliche als Kümmelfotzen bezeichnet werden.

Hengameh, was war dein erstes Bild für den Roman?

Das war tatsächlich die Haarschneideszene, als Nas Parvin die Haare schneidet. Meine Assoziation dazu war generationenübergreifende Care und die Tatsache, dass Nas nie selbst Kinder wollte, jetzt aber zu einem Care-Giver wird und sich nicht darauf vorbereitet fühlt. Andererseits kann Nas dem Kind doch sehr viel geben, wie zum Beispiel Wertefreiheit, wenn es um Queerness geht.

Ursprünglich war es ja nicht dein Plan über rechten Terror zu schreiben, sondern über queeres Altern. Welche Rolle spielt das noch in der finalen Form von Ministerium der Träume? Zu welchen Erkenntnissen bist du gekommen? Ist queeres Altern so viel anders als nicht-queeres Altern?

Ich würde sagen, queeres Altern spielt immer noch eine Rolle, aber es ist nicht der rote Faden. Dieses Coming-Of-Age, also die Pubertät von Parvin und das queere Altern von Nas, die so parallel verlaufen, gehört doch zu den zentraleren Motiven der Geschichte. Queeres Altern unterscheidet sich insofern von einem heteronormativen Altern, dass es unterschiedliche Meilensteine in der Biografie gibt. Dieses lineare Bild von Abschluss machen, eine Ausbildung machen, eine Beziehung haben, heiraten, Kinder kriegen, Haus kaufen, Monogamie und so weiter, das ist beim heteronormativen Altern doch sehr verbreitet. Auch wenn es modernere Familien gibt, ist der Rückzug in die hetero-Kleinfamilie doch sehr häufig. Und mit dem Älterwerden kommt auch die Erwartung ein bestimmtes ‘Mindset’ zu haben. Bei Frauen werden die Röcke länger, das Make-Up dezenter, sowas wie würdevolles Altern. Damit wird suggeriert, dass es passieren muss. Und bei Queers gibt es viele dieser Meilensteine nicht und genauso kein Moment, das suggeriert, man müsse sich jetzt benehmen.

Du hast dich dagegen entschieden, autobiografisch zu erzählen und stattdessen einen fiktiven Roman geschrieben. Fiktiv ist er dennoch nicht unbedingt, denn du verarbeitest im Roman kollektive migrantische und aktivistische Erfahrungen von Zeitzeug*innen, die den rechten Terror im Deutschland der 90er Jahre selbst erlebt haben. Warum hast du diesen kollektiven Zugang dem individuellen vorgezogen?

Genau, ich hatte keine Lust auf mein eigenes Leben, weil ich es nicht so spannend finde. Viel interessanter fand ich die Erfahrung von Aktivist*innen und Familienmitgliedern von mir, die nicht unbedingt aktivistisch waren. Das ist zwar eine Generation, die zum Teil auch selbst publiziert, aber im aktuellen antirassistischen Diskurs oft verschwindet. Mir geht es nicht darum, dass ich den Leuten paternalistisch eine Stimme verleihen will, eher verneige ich mich vor den Erfahrungen dieser Generation, die anders ist als meine eigene und gebe denen Credit für ihre Vorarbeit. Diese hat vielen Menschen wie mir ermöglicht, die Arbeit, die wir jetzt machen, auch so selbstbewusst machen zu können.

Ministerium der Träume ist auch eine Erzählung von migrantischen, antifaschistischen Gangs, die sich in den 90er Jahren innerhalb der jeweiligen Bezirke gebildet haben, um die eigene Community vor den Nazis zu schützen. In einem anderen Interview meintest du, dass diese Form des Widerstands oft aus einer weißen Perspektive erzählt wird. Was meinst du damit?

Wenn man über Antifa oder Baseballschlägerjahre der 90er redet, denkt man an in erster Linie an weiße Leute, die antifaschistisch waren oder Nazis verprügelt haben. Dass es auch migrantische Gangs gab, die sich vielleicht nicht Antifa nannten, aber trotzdem Nazis verprügelt haben oder eben wirklich auch links und antifaschistisch waren, die kommen in der Erinnerung an die 90er häufig nicht vor. Und deswegen meine ich, dass dieser Widerstand aus einer weißen Perspektive erzählt wird. Da geht es nicht um die 36 Boys, Antifa Gençlik oder Café Morgenland, sondern einfach weiße Linke. Damit will ich nicht sagen, dass man das gegeneinander ausspielen soll, sondern einfach, dass das andere sichtbarer werden muss.

Migrantischer, antifaschistischer Widerstand gegen Nazis, weil es die staatlichen Institutionen nicht tun oder selbst verwickelt sind. – Kann man deinen Roman auch als einen Aufruf dazu verstehen?

Der Schutz durch staatliche Institutionen ist seit den 90er Jahren zwar teils besser geworden, aber noch immer ziemlich enttäuschend und einseitig. Wenn wir uns anschauen wie mit den Angehörigen der NSU-Opfer, NSU 2.0, Hanau oder Halle umgegangen wird, dann ist ganz klar, wenn es um rechte Gewalt geht oder um den Schutz davor, kann man sich nicht komplett darauf verlassen. Der Aufruf ist so zu verstehen, solidarische Bündnisse zu schaffen und sich gegenseitig gegen diese rechte Gewalt zu schützen, weil wenn nicht wir, wer sonst.

Der Roman erzählt auch von den verschiedenen Generationen und deren Rassismus-Erfahrungen mit Sperma-Augenbrauen-Annikas und nervigen Annes, denen die persische Familienfeier zu laut ist. Am Ende sitzen alle zusammen und machen sich drüber lustig. Humor als Coping-Strategie?

Humor ist definitiv eine Coping-Strategie und ein Zugang für mich, den ich auch in anderen Texten von mir gerne wähle, um Themen greifbarer zu machen, die uns auseinander bringen, und durch das gemeinsame Lachen eine Form von Intimität aufzubauen, die in einem Erklär-Ton oder flehenden Ton nicht auf einer Augenhöhe passiert. Humor an sich ist schon eine Strategie, um klarzukommen, aber auch um Machtverhältnisse sichtbar zu machen und für einen Moment den Anschein zu geben, sie wären umgekehrt, auch wenn es faktisch nicht der Fall ist.

An einer Stelle geht es um weiße Frauen und deren Fragilität. Was waren deine Gedanken dazu?

Abgesehen von rassistischen und kolonialistischen Kontinuitäten, in denen die Schwäche und Unschuld der weißen Frau häufig genutzt wurde, um rassifizierte Menschen zu bestrafen oder zu dämonisieren und zu ermorden, wird oftmals an eine universalistische Schwesternschaft zwischen Frauen oder FLINTA* (Anm. d. Red.: Frauen, Lesben, Inter, Nicht-binäre, Trans, Agender)  appelliert, gleichzeitig aber darf der Rassismus oder Antisemitismus, der von weißen Frauen ausgeht, nicht kritisiert werden. Oder nur in einem bestimmten Ton. Emotional werden wird weißen Frauen zugestanden und die sollen es nicht nur sein, sondern es bringt ihnen in einem Raum ohne Cis-Männer auch Glaubhaftigkeit. Wenn rassifizierte Frauen emotional werden, wird das oft als ‚too much‘ aufgenommen.

Trauma aufgrund von Gewalterfahrungen spielt ebenfalls eine zentrale Rolle im Roman. Nas hat immer wieder Erinnerungslücken und stürzt gedanklich in ihre Krater. Was hat es mit der pinken Telefonzelle und der Traumafabrik auf sich?

Das sind zwei Metaphern, bei denen ich den Imaginationsspielraum der Leserinnen für sich stehen lassen möchte, denn es gibt Leute, die mit dem Bild der Telefonzelle extrem viel anfangen können und welche für die es ein Rätsel ist. Aber um einen Hinweis zu geben: die Telefonzelle als Ort, der viele Menschen der Diaspora mit ihren Verwandten verbindet und mit einem zuhause, zu dem sie keinen Zugang mehr haben. Die Telefonzelle wird auch in den Träumen von Nas immer verarbeitet, weil es der letzte Ort ist, an dem Nas ihrem Vater begegnet ist, und sie damit den Verlust von verschiedenen Dingen verarbeitet. Und die Traumafabrik ist eigentlich dasselbe wie das Ministerium der Träume, nur negativer konnotiert, nämlich der Kopf.

Hast du eigentlich verärgerte Nachrichten für das abrupte Ende erhalten? Was wolltest du damit bewirken?

Verärgert würde ich nicht sagen, Leute waren nur manchmal überrumpelt oder wollten wissen, wie es weitergeht. Ich wollte ein offenes Ende, das genauso dissoziativ und verwirrend ist, wie der Anfang, um den Kreis zu schließen und einen ‚mindfuck‘ zu erzeugen. War das jetzt alles nur ein Traum? Was war Traum und was ist wirklich passiert? Es gibt verschiedene Möglichkeiten das Ende zu deuten.

Geschlecht und Sexualität wird im Roman nicht als endgültig verhandelt. Parvin stellt sich eine männliche Homo-Beziehung mit ihrem Schulfreund vor, Nas weiß selbst nicht so genau, ob sie überhaupt eine Frau ist. Bewusst?  

Es sollte eben nicht primär um Identitäten gehen, sondern darum, die Protagonst*innen mehr in hypothetischen Gendervorstellungen darzustellen, die aber nicht unbedingt eingelöst werden. Parvin sieht sich in einer männlichen Homo-Beziehung, was bedeutet das? Heißt das jetzt, sie ist trans oder nicht? Das wollte ich offen lassen. Genauso wie Nas nicht sicher ist, eine Frau zu sein, hat auch viel mit der Geschichte von ‚dyke‘ (Anm. d. Red.: Lesbe) als eigenes Geschlecht zu tun. Ich wollte es einfach nicht so krass theorisieren.

Oft wurden Gerichte, Kommentare oder Begriffe auf Farsi nicht übersetzt. Deine schriftstellerische Form des Widerstands gegen die deutsche Leitkultur?

Ich habe manches auf Farsi nicht übersetzt, genauso wie Englisch übrigens. Klar ist es weiterverbreitet, dass Leute, die in Deutschland dieses Buch lesen eher Englisch verstehen als Farsi, aber das trifft auch nicht auf jede Person zu. Ich denke dieses Verständnis von jeder Silbe im Buch muss gar nicht da sein, um die Stimmung zu spüren und den Figuren näher zu kommen. Aber es war nicht unbedingt ein Widerstand gegen die deutsche Leitkultur. Was heißt Widerstand gegen die deutsche Leitkultur? Was wird überhaupt als solcher verkauft? Es ging mir mehr darum, Formen und Sprache in der deutschen Literatur zu queeren und zu unterwandern, oder einfach herumzuexperimentieren.

Tolle Sätze aus dem Buch:

„Knurrenden Lesben gehört das Universum.“

„In Berlin mischt man sich nicht ein, wenn jemand zu Hause laut weint.“

„,In der Kürze liegt die Würze´, lacht er, als könnte seine hässliche Floskel hier irgendetwas auflockern und als würde ich mir von einer Kartoffel irgendetwas über Würze erzählen lassen.“

„Nationalismus war die billigste Droge, sie kostete nur ein paar Leben, die in diesem Land ohnehin nie von Wert gewesen waren, sie machte schnell high, doch der Kater danach war ein verdammter Abfuck, vor allem für jene, die nüchtern blieben.“

„Ich will, dass die ganze Welt einen Hörsturz kriegt. Sie hört mir sowieso nicht zu.“

„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, außer dass das Geheimnis meiner ewigen Jugend Queerness heißt und dass ein Leben ohne cis Männer die Haut besser pflegt als die teuerste Skin-Care-Routine.“

Hengameh Yaghoobifarah, 1991 in Kiel geboren, arbeitet als Journalist*in und Schriftsteller*in und schreibt unter anderem für Missy Magazine, SPEX, an.schläge und hat eine Kolumne (Habibitus) in der taz. 2019 hat Yaghoobifarah gemeinsam mit Fatma Aydemir die Essaysammlung „Eure Heimat ist unser Albtraum“ herausgegeben und seit 2020 kann man auch in den wöchentlichen Podcast „Auf eine Tüte“ reinhören. Yaghoobifarahs erster Roman „Ministerium der Träume“ (2021) ist für den diesjährigen Franz-Tumler-Preis nominiert, der am 17.09.2021 verliehen wird.

Credits: Hengameh Yaghoobifarah (c) Tarek Mohamed Mawad, Blumenbar

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