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September 10, 2021

Die Realität kann nicht lesen

Maria Oberrauch

Wenn ein Wort wie Ähm plötzlich das einzig wahre Wort ist etwas zu sagen, wenn Namen Poesie werden und Ortsbeschreibungen überflüssig, wenn der Fluss der Fluss ist und es völlig egal ist, woher er kommt und wohin er weiter fließt, dann schwimmt man mit, auf Yulia Marfutovas Worten, manchmal schneller, manchmal gemächlich, immer mit der Strömung. Da wird das ganze Dorf ein einziges Gemüt und die Worte erst durch ihr Weitergeben wahr. Da fällt ein Messer zu Boden und keine Gabel und kein Löffel und deshalb wird ein Mann kommen, bald, keine Frau, so ist das und deshalb ist Inna ganz und gar nicht überrascht, als sie auf einen Mann in Offiziersuniform steigt, im Stroh, vor ihrem Haus. Die Offiziersuniform ist zu klein, wie vermutlich alles an diesem Ort für jeden, der von außen kommt. Fast nie vertieft sich einer in dieses unbekannte Dorf und die Kreisstadt nennt man besser nicht und der Mann mit den sauberen Fingernägeln kommt das Geld zu holen, das es nicht gibt, und fährt betrunken ohne Geld wieder ins Außen.

Das Geschehen rundherum ist Hörensagen, die russische Revolution, der Krieg und keine jungen Männer kehren in das Dorf zurück oder sie sind verrückt geworden. Es gibt einen Gott und es gibt die Flussgeister, aber gesehen hat man weder den einen noch die anderen und deshalb verlässt man sich auf Iljas Vorhersagen und Sprichworte, die jeder selbst erfindet. Auch Pjotr hat man irgendwann nicht mehr gesehen. Da ist eine Geschichte vom Schenken und vom Stehlen und es ist einunddieselbe und das ist das Natürlichste auf der Welt, weil es auch eine Geschichte über die Liebe ist. Da ist das Quecksilber, es wollte Hauptdarsteller sein und ist dabei nur Zeitvertreib. Da ist die Zeit, viel Zeit und wie sie jeden so sein lässt, selbst die Gänse, die gar nicht dumm sind, und ihre Federn lassen sich schwer ausreißen. Und natürlich, natürlich kann die Realität nicht lesen, deshalb ist das Stück Papier in der Schürze, die niemandem gehören will, ein Verhängnis. Ilja, der das Mhhm erfunden hat. Und alle: Mhmm.

Der Himmel vor hundert Jahren ist Yulia Marfutovas Debütroman und wurde für den deutschen Buchpreis 2021 nominiert, ebenso für den Franz-Tumler-Literaturpreis, der alle zwei Jahre zeitgenössische, deutschsprachige Debütromane prämiert und heuer am 17. September 2021  in Laas vergeben wird. Yulia Marfutova wurde 1988 in Moskau geboren, studierte an der HU Berlin Germanistik und Geschichte und lebt mittlerweile in Boston.

Fotos: Yulia Marfutova (c) privat, (c) Rowohlt Verlag

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