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July 8, 2021

Manuel Canelles zwischen Wahrheit und Wahrnehmung

Kunigunde Weissenegger

Er beschäftigt sich mit der feinen Grenze zwischen Tatsache und Darstellung, arbeitet mit Video, Fotografie, Installation und Performance international als Regisseur, Theatercoach und bildender Künstler und kuratiert selbst auch Projekte.

Nach Etappen in Rom, Barcelona und Bozen bringt der umtriebige Filmemacher den vierten Teil seines umfassenden Projektes „On Stage“ nach Bozen ins Trevilab. „On Stage“ ist ein sich ständig wandelndes Projekt, in dem sich Manuel Canelles mit Inszenierung, Illusion, Konditionierung und Manipulation auseinandersetzt und dem Publikum diese Dynamiken Schicht für Schicht mit Worten, in mündlicher und schriftlicher Form, darzulegen versucht. 

Von 7. bis 15. Juli 2021 lädt Canelles das Publikum dazu ein, eine eigene persönliche Wahrheit zu erzählen und auf die Frage „Posso dirti la verità?“ zu antworten. Nun denn, wenn er uns so – Posso dirti la verità? – fragt, gewähren wir ihm doch die Antwort:

Ja, klar, sag uns die Wahrheit und erzähl uns, wer du bist!

Mir gefällt die Vorstellung, eine lebendige Einheit zu sein, die selbstbestimmt und frei nach dem eigenen Herzen lebt – einem zentralen Punkt, der beständige Werte verfolgt, aber nicht immer imstande ist, das Gleichgewicht zu wahren. Ich versuche mich auf alle Fälle im Einklang mit der Gemeinschaft zu entfalten. Die Frage ist: Wer bestimmt diese Freiheit? Und die zweite lautet: Ist Selbstbestimmung überhaupt möglich? 

Was erwartest du dir auf deine Frage – „Posso dirti la verità?“? 

Ich erwarte mir keine Antwort. Es ist vielleicht vielmehr die Frage, die ich mir immer wieder selbst stelle. Bin ich beispielsweise in der Lage, mir die Wahrheit über eine Tatsache zuzugestehen, auf die ich keinen direkten Einfluss hatte? Gibt es die eine Wahrheit? Und wie groß ist die Kluft zwischen Wahrheit und Wahrnehmung?

Wo siehst du einen Zusammenhang zwischen „Wahrheit“ und „ehrlich bzw. aufrichtig sein“?

Ich glaube, dass Ehrlichkeit das Ziel einer Bewusstseinsreise ist. Als Kind glaubt man einfach den „Wahrheiten“ der Eltern. Einige Erwachsene glauben den „Wahrheiten“ ihnen nahestehender Personen. Manche lassen sich von Erzählungen von Bekannten beeinflussen, wieder andere von „Gerüchten“, die Menschen, die sie gar nicht kennen oder zu denen sie überhaupt keine Beziehung haben, in die Welt gesetzt haben. Früher zirkulierten diese Gerüchte „nur“ in Bars oder auf Plätzen. Heute werden sie durch den virtuellen Raum der sozialen Medien noch verstärkt.
Ich denke, dass Ehrlichkeit direkt proportional zum Problembewusstsein ist. Sich vom „natürlichen“ Impuls zu befreien, alles zu glauben, ist das Ergebnis einer langwierigen Arbeit an sich selbst. Sich von einem vorbestimmten Prozess zu distanzieren, ist hilfreich, um ruhig zu werden und den Gedanken die Möglichkeit zu geben, (so weit wie möglich) autonom zu reifen, ohne ständige (Vor-)Urteile von anderen Menschen.On Stage Manuel Canelles 02Was hat Manipulation damit zu tun? 

Dafür muss ich etwas weiter ausholen: Der zentrale Punkt meiner Arbeit konzentriert sich auf das Bedürfnis, das jeder von uns hat, zu (irgend)einer Wahrheit zu gelangen.
Der Weg dorthin ist ein langer Prozess. – So weit, so gut, ist doch die Manipulation von Geschichten – abgesehen davon, dass sie einem natürlichen Impuls folgt – eine uralte menschliche Dynamik. Wäre dem nicht so, gäbe es vielleicht die erzählende Literatur nicht. Das Epos, auch auf existenzielle Fragen stellt, lässt sie aber offen, ohne den Anspruch auf eine Antwort zu erheben. Zur Zeit Aischylos‘ war das Theaterpublikum auf der Suche nach Antworten, die Theateraufführung ein Ritual und das Theater zwischen Stadt und Akropolis positioniert, wie die Etappe einer Pilgerreise. Der Glaube an die Handlungen der Götter, ob in Erzählungen von Homer, der Thora oder des Mahabharata, stellt sich nicht dem Problem der Wahrhaftigkeit der Erzählung. Selbst die unwahrscheinlichste Tatsache wird „wahr“, weil sie – in Übereinstimmung mit einem Glaubensmodell und innerhalb eines präzisen kulturellen Kontextes – eine höhere Wahrheit enthält, wie auch immer wir diese auslegen.
Auf Aischylos folgte Sophokles, Euripides, Terenz, Plautus usw. Der erzählende „Chor“ wurde mit einzelnen, zahlreicher werdenden Schauspielern, auch Hypokriten genannt, ersetzt. Zuerst hat sich der erhabene Raum des Theaters, dann der offene Raum der Gesellschaft in einen Ort der Fiktion und der bloßen Unterhaltung verwandelt; den existenziellen Fragen sollte sich nun jeder allein zuhause stellen. 
In diesem oberflächlichen Gewässer navigieren wir heute noch. Und genau hier wird Manipulation zum ernsthaften Problem, weil der kulturelle Kontext nur mehr dem Zeitvertreib und der Neugierde entspricht. Die Stimme wird zum Gerede und das Publikum kann sich dem nur kritiklos stellen. Was passiert nun, wenn eine Stimme unkontrolliert an mein Ohr gelangt? Nichts – also ist es wohl wahr, wenn es als solches wahrgenommen wird. Das ist eine Wahrheit. Also bin ich das Objekt von Manipulation.
Deshalb dreht sich in meiner Arbeit alles um die Art der Dramaturgie. „On Stage“ hat sich von Anfang auf den semantischen Code von Klängen und Wörtern, in mündlicher und schriftlicher Form, konzentriert. 

Gibt es also eine absolute Wahrheit oder sind es immer nur subjektive Wiedergaben? 

Ich glaube, alles hat immer mehrere Sichtweisen. Auch aufgrund persönlicher Erfahrungen gehe ich davon aus, dass jeder, der etwas Erlebtes erzählt oder aufschreibt, die wahrgenommene Realität verändert und die Wahrheit einer Tatsache irgendwo im eigenen Vergessen schwebt. 
Ich kann dem folgendes Beispiel hinzufügen: Während meiner Residenz in Barcelona habe ich eine Aktion mit Bezug zum städtischen Raum und zu privaten Wohnräumen initiiert und bin in die Arbeiterviertel der Stadt eingetaucht, habe im Freien und im Inneren von Häusern alltägliche Geräusche und Gespräche aufgezeichnet. Diese klangliche Kartografie habe ich bearbeitet, dekontextualisiert, verfremdet und während meiner Ausstellung in einer Galerie über Lautsprecher wiedergegeben. In einer Blackbox mit Mikrophon und Aufnahmegerät wurden die Besucher*innen gebeten, das Gehörte zu beschreiben, so wurden sie selbst zu Akteur*innen ihrer eigenen Geschichte. Die Klänge im Saal und die Erzählungen des Publikums kollidierten wiederum in Echtzeit, was über drahtlose Kopfhörer mitgehört werden konnte. Diese extreme Schichtung und Konditionierung des Hörens waren grundlegend bei meiner Aktion: Da ein Zugriff auf die Quelle nicht möglich war, waren die Interpretationen unendlich und wurden auch von abwesenden Faktoren (wie beispielsweise die persönliche Erfahrungsgeschichte usw.) beeinflusst.
Die Unmöglichkeit, das Geschehene nachzuprüfen, hat – auch bei ein und demselben Input – unendlich viele Outputs bzw. dramatische Strukturen ermöglicht.

Was sagst du: Sollten wir uns mehr Wahrheiten erlauben?

Darauf weiß ich keine Antwort. Auch ich bin im selben Sumpf gefangen und versuche, die Informationen zu überschauen, die mich bei der Beurteilung von etwas oder jemandem immer beeinflussen können. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema hat es mir aber gestattet, mir ein Bild der Rolle in der heutigen Gesellschaft und in den täglichen Beziehungen zu machen und eine Methode zu entwickeln, mich selbst und damit auch das Publikum auf das Thema dieser feinen Grenze zwischen Realität und Darstellung aufmerksam zu machen.

Foto: Martina Ferraretto (Rome) Eva Loprieno (Barcelona)

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