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June 25, 2021

Rege, lebendige Szene, mit Lust und Sehnsucht nach Aufwind

Katharina Moling
Roberto Tubaro
Kunigunde Weissenegger
Anlässlich des 40jährigen Bestehens der „kulturelemente – Zeitschrift für aktuelle Fragen“ betrachten Katharina Moling (Kunsthistorikerin und Kuratorin, Wengen), Roberto Tubaro (Architekt und Musiker, Bozen) und Kunigunde Weissenegger (Übersetzerin, Schreiberin, Journalistin, Völs) auf Einladung des kulturelemente-Koordinators Hannes Egger gemeinsam in einer Art Rundumblick die Südtiroler Kulturszene – ähnlich wie es in der Ausgabe Nr. 1 der Distel (heute kulturelemente) vom 1.1.1981 unter dem Titel „Kulturträger in Südtirol und ihr Kulturverständnis“ aus der Feder verschiedener Autoren geschehen ist. – Alles Gute!

 

Laut nachdenken über etwas, das es im Moment nicht gibt? Sich mit einer Branche auseinandersetzen, die nicht immer wirklich ernst genommen wird? Es fällt schwer, sehr schwer, Kultur in einer Zeit zu betrachten, in der so wenig von ihr stattfindet wie nie in den letzten Jahrzehnten. Doch darauf wollen wir uns nicht konzentrieren, denn der zur Verfügung gestellte Raum ist knapp und wir haben sechs Hände, aus denen Ideen, Gedanken, Beobachtungen und Überlegungen fließen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb waren in den letzten Monaten auch eine gewisse kulturelle Flexibilität und Reaktivität festzustellen. Eigentlich sollte also gerade jetzt in dieser Zeit der COVID-Pandemie, in der Museen, Theater, Kinos, Bibliotheken, Konzertsäle, kurzum alle Kultureinrichtungen geschlossen waren bzw. sind, deutlich geworden sein, wie gewichtig Kultur ist. Wir haben deutlich feststellen können, wie groß das Reaktionsvermögen der Szene ist bzw. sein könnte, dass es jedoch aber leider nicht immer möglich ist, ihm freien Lauf zu lassen. Sonst hätten die großen Player der Szene ihre Rolle intensiver wahrnehmen, in gewisser Hinsicht wie Zugpferde voran ziehen und sich gemeinsam mit den kleineren den Weg freimachen können.

Eigentlich sind die Grenzen zwischen freier und institutioneller Kultur offensichtlich. Obwohl Kultur sich vermehrt nicht mehr nur in den großen Konzertsälen, Museen und Galerien abspielt, sondern auch auf der Straße und im Privaten. Es muss nicht mehr unaufhörlich eine „Grenze“ überschritten werden. Wie vor Jahrzehnten gilt immer noch der Grundsatz, über den eigenen Gartenzaun hinauszudenken und auch dem Nachbarn etwas zu gönnen. Die Vernetzungsmöglichkeiten sind zurzeit groß und scheinbar unbegrenzt, Internet sei Dank: Es gestattet Vieles … erschwert aber auch Manches. Die Blasen, in denen wir alle gewollt oder ungewollt schwimmen, sind vielfältiger geworden. Bei der Beschäftigung mit dem Thema Fragmentierung drängt sich in Südtirol wohl oder übel die Frage auf, ob es die Zergliederung in drei Hauptsprachgruppen (Deutsch, Italienisch und Ladinisch) noch gibt oder ob wir inzwischen von einer Zusammenarbeit sprechen können? Sicherlich wird jede Sprachgruppe, auch über die drei oben genannten hinaus, ihre eigene respektierenswerte Kultur mit Besonderheiten und Merkmalen vorantreiben. Aber es ist nach Jahren, in denen wenig Bedürfnis danach bestand, weil alle lieber ihr eigenes Süppchen kochten, jetzt auf alle Fälle wieder eine bemerkenswerte Sehnsucht und Lust auf Vernetzung – auch über die Grenzen hinaus – zu spüren. Vielleicht auch, weil man von der eigenen Hausmannskost genug hat und wieder etwas anderes schmecken will oder, banaler, um das eigene Publikum zu erweitern.

Der Punkt ist, was kann in diese Richtung unternommen werden, um diese Stimmung zu unterstützen? Eines ist klar: Wir brauchen mehr Kooperationen. Kultur-Machen sollte eine freie, (befreiende?), belebende Aktivität sein, die Raum zum Experimentieren gibt. Auch unabhängig von Finanzierungen, die meistens wiederum an Regeln gebunden sind, die von oben diktiert werden, wovon es in Südtirol genug gibt. Unsere Mehrsprachigkeit ist immer noch zumeist Hindernis, aber zugleich mehr und mehr auch Möglichkeit – was vor allem von aufstrebenden Kreativen durchbrochen wird, wenn sie sich auf Inhalt und Gegenstand konzentrieren und nicht von Wörtern ablenken lassen. Luft nach oben gibt es auf alle Fälle auch hier noch … 

Dennoch: Es passiert sehr viel. Wenn wir an die zeitgenössische Kulturszene in Südtirol denken, fällt uns als erstes ein, dass das Angebot im ganzen Land sehr vielfältig und lebendig ist. Es gibt viele Akteurinnen und Akteure, alle bemühen sich, sind emsig und eifrig und besonders in letzter Zeit wieder vermehrt erpicht auf Vernetzung und Interdisziplinarität geachtet. Es gibt große und kleine Initiativen, Institutionen, Vereine, Projekte: konventionelle, alteingesessene und aufstrebende, neue. Unartiges, Ungewagtes, Absurdes fehlt manchmal. Aufgeschrien wird wennschon, weil es zu wenig von beiden Rs gibt: Ressourcen und Respekt. Dann könnte mehr angeeckt, respektvolle Kritik positiv aufgenommen, weniger beleidigtsein und daran gewachsen werden. Das gilt übrigens nicht nur für die Kulturszene.

Unabhängig zu arbeiten ist in der Provinz in vielen anderen Wirtschaftszweigen schwierig. In einer Branche, wo viele Projekte an öffentliche Institutionen gebunden sind und ständig Budgets und Honorare gerechtfertigt und verteidigt werden müssen, umso mehr. Kultur ist (auch) heutzutage eine riskante Tätigkeit, vergleichbar mit Free Solo, weil wir uns mitten in den Bergen befinden … Der Umstand, dass das Künstler*innen-Sein und Kultur-Machen als solches wahrgenommen wird, nervt aber auch. Von Lob und Ermutigung lebt keine*r. Im Gegenteil wird diesem Beruf damit in gewisser Hinsicht seine Vollwertigkeit abgesprochen. Künstler*in ist nicht gleich Lebenskünstler*in. Nichtsdestotrotz scheint im Besonderen zeitgenössische Kunst seit zwei Jahrzehnten, da präsenter, auch von der Südtiroler Bevölkerung mehr bemerkt zu werden. Es gibt viele junge Künstler*innen, die experimentieren und sich trotz Schwierigkeiten Wege der Verwirklichung suchen – eine große Vision für die Zukunft, die sich gegen die Betäubung auflehnt. Die Szene ist sehr rege. Südtirol weicht da wahrscheinlich gar nicht so viel von anderen Regionen, Provinzen oder entlegeneren Orten ab: Zeitgenössisches tut sich immer schwerer. Dieser neue frische Wind, der durchs Land weht, befruchtet auch die anderen Branchen, wie Wirtschaft, Politik und die gesamte Gesellschaft. Die eigentliche Kunst besteht darin, die richtigen Fragen zu stellen und sich nicht innerhalb von Sekunden eine Antwort zu erwarten, sondern den Mut zu haben, Carte blanche zu geben. Den Horizont erweitern ist nie falsch. 

> kulturelemente lesen und bestellen: kulturelemente.org. – Die Jubiläumsausgabe der kulturelemente Nr. 158/159 zum 40. erscheint am 25.6.2021 in einer Doppelausgabe zusammen mit der SAAV, da auch diese dasselbe 40er-Jubiläum begeht. 

Foto: franzmagazine

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