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June 19, 2021
Der man-schafft-alles-wenn-man-hart-arbeitet-Bullshit – Anna Gschnitzer
Eva Rottensteiner
Sie schämt sich
vor dem Besuch
obwohl sie ihn nicht ausstehen kann
Sie schämt sich für den abgenutzten
gelblichen Linoleumboden
Für die Schürze
die ihre Mutter noch immer trägt
Dafür
dass der Vater
gerade fremde Küchen montiert
anstatt mit ihnen am Tisch zu sitzen
Den viel zu langen aschblonden Haaransatz ihrer Mutter
dafür dass keine Servietten unter dem Besteck liegen
Und
sie schämt sich
vor ihrer Mutter
dafür
dass sie sich
für sie schämt
In der Figur Alex beschreibt Anna Gschnitzer einen inneren Konflikt, den gerade jene Menschen durchleben, die als sogenannte Arbeiter*innenkinder an die Uni kommen. Sie sind oft die ersten in der Familie mit einem höheren Bildungsabschluss und haben dadurch erstmals Zugang zu kulturellen Räumen wie den Kunstbereich, der ihnen in ihrem sozialen Milieu nicht zugänglich war. Manche bezeichnen sie auch als soziale Aufsteiger*innen, denn sie haben ihre soziale Schicht gewechselt: von der Arbeiter*innenklasse in die Akademiker*innenklasse. Doch ganz so leicht gestaltet sich dieser Wechsel nicht, denn im neuen Milieu verhält man sich anders, lebt man anders, spricht man anders.
Stichpunkt Identitätsverlust.
Man möchte in der neuen Welt dazugehören, eignet sich den Sprech an, die Hobbies und sogar die Wohnungseinrichtung. Und doch wird es immer wieder eine Situation geben, in der die eigene soziale Herkunft durchsickert. Vielleicht weil man als Kind nicht von den Eltern ins Theater geschleppt wurde oder Wort xy nicht kennt. Dann kommt die Scham. Man fühlt sich ertappt und merkt, dass man doch anders ist. Und anschließend kommt die Scham darüber, dass man seine eigene soziale Herkunft verleugnet. Was übrig bleibt, ist ein Dasein zwischen zwei Welten. Und in beiden scheint kein Platz dazusein.
Darum geht es in Anna Gschnitzers Theaterstück. Beim Heidelberger Stückemarkt im April/Mai 2021 hat “Einfache Leute” den Publikumspreis gewonnen und das noch vor der eigentlichen Premiere des Theaterstückes. Die findet nämlich am 20. Juni 2021 im Stadttheater Mainz statt. Wer da nicht hinkommt, kann sich den Text auch hier bestellen.
“Einfache Leute” macht nicht nur unsichtbare Klassenverhältnisse sichtbar, sondern zeichnet gleichzeitig eine Karikatur bougeoiser Lebensweisen, patriarchaler Machos in der Kunstwelt und entzaubert neoliberale Glaubenssätze.”
Aber zunächst: Ein Interview.
Anna, warum eigentlich ist dieser Identitätsverlust nach einem sozialen Aufstieg im gesellschaftlichen oder politischen Diskurs nicht sichtbar?
Anna Gschnitzer: Erstmal ist Klasse selbst oft nicht sichtbar, sondern zeigt sich eher in den kleinen, feinen Unterschieden. Das heißt, sie schreibt sich zwar in den Körper ein, aber auf eine subtile Weise: in die Gesten, in die Art, wie man sich Raum nimmt, wie selbstverständlich man sich dazu berechtigt fühlt oder eben zugehörig. Und natürlich kann man Klasse auch verleugnen, seinen Habitus anpassen, zu einem Chamäleon werden, oder besser gesagt zu Klassenübergänger*innen. Das heißt die Unsichtbarkeit in Bezug auf Klassenübergänger*innen liegt, denke ich, auch an der Sache selbst. Anders als die Erfahrung, Diskriminierungen ausgesetzt zu sein, weil man sich einer bestimmten Community zugehörig fühlt, wie beispielsweise durch die Kategorien “race” (Anm. der Red.: ethnische Herkunft) oder “gender” (Anm. der Red.: soziales Geschlecht) geht es hier nämlich um Nicht-Identität. Ich habe selbst sehr lange gebraucht, um zu verstehen, woher dieses nebulöse Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit und der Scham kommt. Und genau diese auch oft nicht leicht zu fassende soziale Scham ist ein weiterer Grund, dass es gesamtgesellschaftlich wenig Bewusstsein darüber gibt. Trotzdem muss ich sagen, dass ich den Mut über Klasse zu sprechen, nicht aus mir selbst geschöpft habe, sondern tatsächlich einem bereits existierenden Diskurs zu verdanken habe, denn das Thema Klassismus und soziale Ungleichheit gewinnt gerade (wieder) in Literatur und Theater an Sichtbarkeit. Didier Eribon und Annie Ernaux wurden in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum entdeckt, es finden “Arbeiter*innenkinder-Stammtische” statt, um Kulturschaffende mit Klassismus-Erfahrung zu vernetzen und es werden Panels zu dem Thema organisiert. Das hat mich auch dazu ermutigt, über das Thema zu schreiben. Aber natürlich ist das nur ein winziger Ausschnitt, gesamtgesellschaftlich und vor allem politisch fehlt noch an extrem vielen Stellen Bewusstsein, vor allem im Kulturbetrieb, denn obwohl das Thema inhaltlich präsent ist, gibt es strukturell wenig Veränderungen, es gibt z. B. kaum Stipendien, die Künstler*innen mit Arbeiter*innen-Background fördern.
Warum nennen wir sozialen Aufstieg eigentlich so? Vermitteln wir dann nicht auch eine bestimmte Wertigkeitsskala, dass es oben besser ist als unten?
In der Literaturgeschichte, wie auch in Film und Fernsehen finden sich tausende Geschichten über “sozialen Aufstieg”, sie reichen von Stendhal bis zu “Plötzlich Prinzessin”. Fast immer werden sie zu Erfolgsgeschichten stilisiert und bilden den blinden Glauben an Leistung ab, der tief in unserer kapitalistischen Gesellschaft verankert ist. Das Märchen von “man schafft alles, wenn man nur hart genug dafür arbeitet” war schon immer kompletter Bullshit, aber die Pandemie hat die Situation radikal verschärft. Sie hat soziale Mobilität gesamtgesellschaftlich fast unmöglich gemacht. Gerade jetzt sollte man also viel eher als ständig den immer steileren Weg nach oben zu glorifizieren, eher über Verteilungspolitik sprechen. Mir ging es deshalb in “Einfache Leute” nicht um eine Coming-of-Age-Geschichte oder darum, eine lineare Erfolgsgeschichte von unten nach oben zu erzählen, sondern die Horizontale zu beschreiben, die Zerrissenheit zu zeigen, das, was man verliert, die Menschen, die man zurücklässt.
Könnten nicht gerade diese Menschen, die in diesen beiden Welten ein bisschen zuhause sind, eine wichtige Brückenfunktion haben?
Ein weiterer Grund, warum ich lange gezögert habe über Klassismus zu schreiben, war auch der, dass ich als Klassenübergänger*in (eigentlich immer noch) einen Konflikt in mir trage. Ich gehöre nämlich nicht mehr der sozialen Klasse der Arbeiter*innen an, ich bin nicht mehr dem Klassismus ausgesetzt, den vielleicht meine Eltern noch zu spüren bekommen. Bin ich aber trotzdem berechtigt über Klassismus zu schreiben? Eine schwierige Frage auch, weil die Voraussetzung für ein solches Schreiben überhaupt erst in der Entfernung zu meinem Herkunftsmilieu begründet liegt. Denn nur weil ich mir eine Sprache angeeignet habe, die dort noch nie gesprochen wurde, kann ich über Klassismus schreiben. Vielleicht habe ich also gerade deshalb die Verantwortung es zu tun? Schließlich bedeutet als Betroffene über Klasse zu sprechen auch, sich über Stigmatisierung hinweg zu setzen. Das ist ganz schön viel verlangt von Menschen, denen der Zugang zu Bildung und ökonomischem wie kulturellem Kapital erschwert ist, andererseits: sollte es nicht genau darum gehen die Stimmen der Subalternen zu hören? Alles Fragen, mit denen ich mich nach wie vor beschäftige.
Du schreibst an einer Stelle: “Vier Generationen sind nötig, damit der Machtanspruch, die Bildung, die Sprache, die Kleider, Eloquenz, Stil, Geschmack, die Gesten endlich übergegangen sind in den Körper, selbstverständlich werden für den Körper, der nur die Armut kennt.” Warum gerade vier?
Ich glaube, das habe ich bei Bourdieu geklaut. Was mich jedenfalls daran interessiert, egal von wem diese These stammt, ist, dass sich Klasse und Herkunft über lange Zeit, also über mehrere Generationen hinweg in uns ein- und weiterschreiben und dass es eben nicht genügt als erste Generation einen Milieuwechsel zu vollziehen, um in diesem auch wirklich anzukommen, sondern, dass es verdammt lange braucht, bis sich die neue Welt “natürlich” anfühlt, man sich Dinge ganz selbstverständlich aneignet und keine Anstrengung mehr dahintersteckt. Dass es nicht zwei oder drei Generationen sind, fand ich erstaunlich, aber dann auch ziemlich schnell nachvollziehbar, denn mein*e Urenkel*in wird mich wahrscheinlich nicht mehr kennenlernen. Er/Sie wird sozusagen nur eine Spur meines Herkunftsmilieus in der Generation seiner/ihrer Eltern, meiner Kinder, erkennen können, wie ausgeblasst. Irgendwie auch eine traurige Vorstellung.
Die deutsche Autorin und Kolumnistin Margarete Stokowski meinte mal bei einer Lesung, man solle aufhören, Autor*innen nach autobiografischen Parallelen zu ihren Texten zu fragen. Es untergrabe deren künstlerische Fähigkeiten. Wie siehst du das? Nervt dich das, auch wenn es passiert?
Es war bestimmt ein Grund, warum ich so lange gezögert habe, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Ich hatte totale Angst in Zukunft das Label des Arbeiterkindes nicht los zu werden und jeden Text auf autobiographische Aspekte reduziert zu sehen. Auch deshalb war es mir wichtig, dass die Protagonist*innen des Stücks anders sind als ich, dass sich ihre Leben von meinem unterscheiden. Das hat mir beim Schreiben viele Freiheiten gegeben. Der Text entwickelt seine eigenen Wahrheiten, wird selbst lebendig und ist nicht bloß ein Schatten der Realität. Das ist fürs Schreiben, aber auch fürs Lesen viel spannender, finde ich, als ständig wissen zu wollen, ob das auch wirklich alles so passiert ist. Denn das ist es sowieso nicht, das wäre ja langweilig.
Ich mache es jetzt auch, weil du in einem Interview erklärt hast, dass du im Stück Themen verhandelst, die du selbst gut kennst: Wie hilft man sich selbst in einer solchen Lage? Geht das überhaupt? Was hat dir geholfen?
Was mir geholfen hat, war tatsächlich darüber zu lesen und zu sprechen, Worte zu finden. Denn die Scham entzieht einem die Worte und macht es einem damit schwer, die Dinge zu reflektieren und einzuordnen. Deshalb bin ich unglaublich dankbar dafür, dass mir ein Freund vor einigen Jahren Annie Ernauxs Bücher in die Hand gedrückt hat. Ein gegenseitiges Empowerment von anderen Menschen mit Arbeiter*innen-Hintergrund ist extrem wichtig.
In einem anderen Interview sprichst du von der Corona-Pandemie, die wie ein Katalysator für soziale Ungleichheiten wirkt. Was meinst du damit?
Ich meine den Verteilungskampf, der immer härter wird, die Schere von Arm und Reich, die größer wird. Das hat mit dem Wohnungsmarkt zu tun, mit Mieten, die sich niemand mehr leisten kann, auch nicht vor der Pandemie, aber mit ihr schon gar nicht. Das hat auch mit Zugang zu Bildung zu tun und mit Ressourcen: Welche Kinder haben einen Computer zu Hause, mit dem sie fürs Home-Schooling lernen können, wer hat überhaupt ein Zimmer für sich allein, in dem man sich zurückziehen kann? Wer hat Eltern, die einem nochmal Algebra erklären können. In Zeiten der Katastrophe wird deutlich, wer weich fällt und wer gar nicht mehr aufsteht.
Spielt soziale Herkunft auch im Theater eine Rolle? Und ist das Theaterkollektiv Bureau, das du mitbegründet hast, eine Gegenstrategie dazu?
Soziale Herkunft spielt überall eine Rolle. Und natürlich hat die Sozialisierung mit Kultur oder die finanzielle Absicherung eine riesige Auswirkung z. B. darauf, welche Risiken man bereit ist einzugehen, und damit auf die Möglichkeit sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Das im Kunst- und Kulturbetrieb zu thematisieren ist ein wichtiger erster Schritt, aber natürlich müssen auch strukturell Veränderungen passieren, dabei kann Vernetzung helfen. Mit dem Theaterkollektiv Bureau, das ich zusammen mit Marie Bues gegründet habe, habe ich die ersten Versuche als Theaterschaffende gewagt. Der Rückhalt der Gruppe war damals extrem wichtig für mich. Mittlerweile arbeiten wir in anderen Konstellationen, aber es ist wichtig mit seinen Weggefährt*innen loyal und solidarisch zu bleiben, vor allem im Theaterbetrieb, der sich schnell gegen einen wenden kann.
Die beiden Hauptfiguren Alex und Toni haben Namen, die weiblich und männlich gelesen werden können. Wie verhandelst du Geschlecht in deinem Stück?
Das Stück funktioniert auf zwei miteinander verwobenen Zeitebenen, man begegnet den beiden Figuren als Jugendliche und als Erwachsene. Mit der Namensgebung wollte ich vor allem den jugendlichen Figuren mehr Freiheit geben, schließlich sind sie gerade erst dabei sich selbst, ihre sexuelle Identität und Orientierung zu entdecken. Im Laufe des Stückes geht es immer wieder darum, als weiblich gelesene Person durch eine patriarchale Welt zu navigieren und um die Verletzungen, die das mit sich bringt. Ich denke, man kann den Kampf um Anerkennung und Sichtbarkeit niemals hinsichtlich nur eines Aspektes führen, denn Identität ist komplex und vielschichtig und Menschen sind auf unterschiedlichen Weisen Diskriminierung ausgesetzt.
Wie bist du eigentlich zum dramatischen Schreiben gekommen?
Ich habe relativ spät angefangen “ernsthaft” zu schreiben, habe Texte lange nicht wirklich zu Ende geschrieben, oder gar nicht erst angefangen, eben weil ich mir nie zugestanden habe, wirklich Autorin werden zu können. Ich muss selbst heute manchmal noch lachen, wenn ich sage, dass ich Autorin bin, obwohl ich zur Zeit davon leben kann. Als ich die Aufnahmeprüfung am Institut für Sprachkunst in Wien geschafft habe, war mein erster Gedanke: Scheiße, jetzt flieg ich auf. Ich war also noch nie gut in der Kultivierung des Geniebegriffs, die einsame Schriftstellerin, allein gegen die Welt, das war noch nie meins. Wenn ich zu lange allein vor mich hin arbeite, werde ich traurig und die Ideen gehen mir aus. Ich brauche den Austausch, ich brauche die Menschen, für die ich schreibe, die Vorstellung von einem realen Raum und den realen Körpern von denen, die der Text dann verändert und von denen er weitergeschrieben wird. Etwas das gerade mit “Einfache Leute” in der Regie von Alexander Nerlich am Staatstheater Mainz passiert. Es ist schön und befreiend, die Kontrolle abzugeben und zu sehen, wie der Text in der Gemeinschaft weiter wächst. Die Premiere ist am 20. Juni 2021 live vor Publikum. Darauf freue ich mich gerade sehr, ein wirklich großes Geschenk!
Anna Gschnitzer, 1986 in Innsbruck geboren und aufgewachsen in Südtirol, hat Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien studiert. Sie mischt als Autorin, Dramaturgin und Regisseurin bei verschiedensten Theater- und Opernproduktionen mit und wurde dafür auch mehrfach ausgezeichnet. Gemeinsam mit Marie Bues hat sie das Theaterkollektiv Bureau gegründet. Aktuell lebt und arbeitet sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in München.
Photo Credit: Julian Baumann
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