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June 16, 2021

„Das Training des Urteils ist vielleicht das Wichtigste …“

Kunigunde Weissenegger

Er geht und schließt mit einer letzten analogen Ausstellung: Das Geschichtsarbeitsprojekt „yesterday tomorrow“ zeigt im Nowherevintage Store in Bozen Fotos, Videos, Gemälde und Skulpturen von 19 Kunst-Studierenden des Studios ‚Exhibit’, das von Professor Stephan Schmidt-Wulffen geleitet wird.

Eröffnet wird am Donnerstag, 17. Juni 2021 um 18 Uhr mit allen Beteiligten, die da wären – Lehrende: Stephan Schmidt-Wulffen, Gerhard Glüher und Davide Ferrando; Studierende: Luana Carp, Noemi Carrara, Mattia Cingolani, Chiara Cortellini, Pia Dellermann, Elda Ergulec, Allessia Frerotti, Delilah Friedman, Jana Friedrichsen, Laura Galvanetto, Laura Governatori, Sebastain Haaf, Moritz Knopp, Alice Makselj, Luca Piscopo, Hella Popp, Marie Romeijn, Johannes Scherer und Jessica Schumann.

Zwischen Kleiderständern, Regalen und Umkleidekabinen zeigen die Studierenden der Fakultät für Design und Künste an der Uni Bozen ihre Arbeiten, die jeweils nach dem Herantasten an das Werk eines prominenten Künstlers der internationalen Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums in München entstanden sind. Beim Prozess begleitet hat sie Professor Stephan Schmidt-Wulffen, Kunsttheoretiker und Kurator.

Es geht um Lifestyle, Identität und Geschlechterrollen, poetische Traummomente und surreale Welten, Reiserelikte und Tourismus, Weihnachten, Erinnerungen, die Pandemie, linke Schuhe und die Aufwertung von scheinbar Wertlosem – womit sich auch der Kreis zum Ausstellungsort schließen würde. „Nostalgie, Lifestyle, Geschichte – Werke und Ware verbinden sich in diesem informellen Ausstellungsprojekt zum subtilen Zusammenspiel, das das Einkaufen für kurze Zeit zum Erlebnis macht“, wie es im Konzepttext heißt.

Und zum Abschied noch ein paar Fragen an Stephan Schmidt-Wulffen.

Was war dir beim Lehren an der Uni stets wichtig an die Studierenden weiterzugeben? 

Es gibt auch in der Kunst Regeln, die man am besten aus der Betrachtung der Geschichte gewinnt. Deshalb war die historische Rückschau auf die Entwicklung der sechziger, siebziger und achtziger Jahre immer wichtig. Ich gebe zu, dass dieses historische Skelett des künstlerischen Arbeitens in den letzten Jahren instabil geworden ist. Ich frage mich also, wieviel eurozentrische Theorie eine junge Künstlerin heute eigentlich noch braucht. Aber noch viel wichtiger ist ein scharfer Blick auf die eigenen (und natürlich auch immer auf fremde) Arbeiten. Das Metier des Künstlers scheint mir mit diesem genauen Blick zu tun zu haben, der Unterschiede bewertet und dadurch neue Möglichkeiten eröffnet. Das Training des Urteils ist vielleicht das Wichtigste.

Was wirst du am meisten vermissen?

Ich müsste sagen: die akademische Gemeinschaft, das kontinuierliche Gespräch mit meinen Kolleginnen und Kollegen, mit meinen jungen Mitarbeitern. Aber ich werde weiterhin an meiner deutschen Universität lehren, so dass ich nicht ganz verlassen bin. Aber es hat auch immer großen Spaß gemacht, junge Künstlerpersönlichkeiten wachsen zu sehen und dabei ein wenig helfen zu können. Dieses gemeinsame Nachdenken über Werke und wie sie die Person bestimmen, das wird mir fehlen. 

Was wirst du von Bozen/Südtirol mitnehmen?

Als ich vor fünf Jahren ankam, habe ich die Italianità sehr genossen. Ich habe in einigen Ländern unterrichtet, aber die Lebenskunst der Italiener ist unschlagbar. Und hier erlebt man das besonders, weil ja der Kontrast zum Österreichischen immer mitgeliefert wird. Ich habe einige politische und bürokratische Lektionen gelernt. Deutschland schien mir immer das Land der Über-Bürokratisierung; aber ich habe mich offenbar ein wenig getäuscht. Die können da von den Italienern noch einiges lernen. Was vielleicht in meinem Alter am kostbarsten ist, sind aber einige Freundschaften, die ich mitnehme und die mir hoffentlich noch lange erhalten bleiben.

Und was kommt jetzt?

Die Plattform für Kulturerbe und Kulturproduktion arbeitet in Sexten die Jahre des 1. Weltkriegs auf und hat mich gebeten, die kuratorische Präsentation der Ergebnisse zu übernehmen. Wir werden mit historischen Dokumenten und künstlerischen Interventionen hoffentlich eine sehr spannende Ausstellung erarbeiten und das wird mich bis zum nächsten Sommer immer wieder nach Bozen bringen. Ich denke auch über ein Projekt nach, mit dem die künstlerische Intelligenz gezielter ins öffentliche Leben gebracht werden kann. Sich die Zukunft mit den Augen einer Künstlerin oder eines Künstlers vorzustellen, ist angesichts der vielen Probleme in unserer Gesellschaft vielleicht hilfreich.

Abschließend eine 100-Millionen-Euro-Frage: Was musst Kunst?

Ihre große Stärke in einer durchrationalisierten Gesellschaft ist wahrscheinlich, dass sie gar nichts ‚muss‘. Künstlerinnen und Künstler haben eine geschärfte Wahrnehmung. Sie sehen im Detail und nehmen deshalb auch alternative Möglichkeiten wahr. Die ‚kreative Mikropolitik‘ ist vielleicht der große Beitrag der Kunst in unserer Zeit.  

Schaut von 18. bis 26. Juni 2021 während der Geschäftszeiten (Mo–Fr 11–19 Uhr, Sa 11–18 Uhr) in der Vintage-Boutique Nowhere in der Leonardo-da-Vinci-Straße 2/G vorbei und macht euch selbst ein Bild von den erarbeiteten Positionen.

Foto: Davide Ferrando

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