Music

February 12, 2021

Harmonie in unharmonischen Zeiten: Simone Graziano im Dekadenz-Live-Stream

Florian Rabatscher

Es wird immer schwieriger, den momentanen Zeiten irgendetwas Positives abzugewinnen. Wie sollte man auch, egal ob man die Zeitung aufschlägt oder die Glotze einschaltet und den Worten der Betonfrisuren in den Nachrichten lauscht? Man wird zum Großteil mit schauderhaften Botschaften bombardiert – Pandemie, Infizierte, Tote, Mutationen, Krise, Arbeitslosigkeit – sind nur einige davon, die uns gerade in einen ständigen Angstzustand versetzen. Hirnrissige Szenarien, in denen Bill Gates der absolute Bösewicht ist und elitäre Geheimbünde für ein längeres Leben Kinderblut trinken, gewinnen viel Aufmerksamkeit. Ist die Erde eine Scheibe? Sind Trumps Haare echt? Sind das wirklich die wichtigsten Fragen zurzeit? Anstatt sich aber in solche Hirngespinste zu flüchten und irgendwelche hirnrissigen Antworten auf Probleme zu bekommen, sollte man zwischendurch einfach kurz durchatmen und ruhig bleiben. Ich weiß, dieser Tipp klingt ziemlich abgedroschen und banal, aber kleine positive Vibrationen existieren noch immer, sie gehen nur neben dem ganzen Wahnsinn einfach unter. Speziell während des Lockdowns befinden wir uns mitten in einer dunklen Zukunftsfantasie, in der man mehreren Menschen nur mehr digital gegenübersteht. In den Genuss von Live-Konzerten kommt man nur noch über das World Wide Web, was überhaupt kein Vergleich zur gewohnten Weise darstellt. Trotzdem ist diese Variante immer noch besser, als gar keine Konzerte mehr zu besuchen.Um euch aber diesen Konzertersatz so schön wie möglich zu gestalten, fährt der Jazz-Beauftragte der Dekadenz Brixen Max von Pretz wieder besondere Sound-Geschütze auf. Am Samstag, 13. Februar 2021 werden um 20:30 Uhr alle Fans der schräg-schönen Musik vor die heimischen Bildschirme gebeten. Da wird nämlich der Florentiner Ausnahme-Pianist Simone Graziano im Live-Stream über die Facebook-Seite oder über den YouTube-Kanal der Dekadenz aus dem Kulturkeller auftreten. Simone Graziano gehört zu den wichtigsten Jazzmusikern Italiens. In den letzten Jahren hat er unter anderem mit Paolo Fresu, Stefano Bollani und Tommy Crane gearbeitet. 2019 erschien sein letztes Album „Sexuality“, welches die renommierte Zeitschrift „Allabout Jazz“ zu den besten Alben des Jahres zählte. Neben der regen Kompositions-, Konzert- und Kuratoren-Tätigkeit hält er zudem Master Classes, die ihn nach Maastricht, Rotterdam, Tbilisi und Paris führen.

Klingt schon mal gut, aber was unterscheidet dieses von den anderen unzähligen virtuellen Konzerten? Ganz einfach: Es wird eine Premiere. Denn natürlich wurde auch Simone Grazianos Welt durch die Pandemie völlig auf den Kopf gestellt, dadurch fing er nicht nur an, sein bisheriges Leben umzudenken, sondern auch sein vertrautes Instrument neu zu entdecken. Er beschreibt es so:

„Ich habe zirca 36 Jahre mit einem Instrument verbracht, das immer gleich geklungen hat. Das Modell hat sich vielleicht verändert, die Größe, der Saal, in dem ich gespielt habe, aber in etwa war der Sound eben immer jener. Die Tatsache, dass ich immer wusste, was ich unter den Finger hatte, beruhigte mich, gab mir Sicherheit. Eines Morgens, nun, am ersten Tag des zweiten Lockdowns, habe ich mein Handy in das Klavier gelegt und die Klappe zugemacht und aufgenommen, was ich gespielt habe. Es klang absurd, ganz anders als das, was ich immer gehört hatte. Das war der Anstoß, um weiter zu untersuchen, was sich jenseits der schwarzen und weißen Tasten befindet. Ich habe anschließend so ziemlich alles unter die Klaviersaiten gelegt, was ich gefunden habe: Von Zigarettenfiltern bis hin zum Radiergummi. Das Instrument, dessen Klang ich mir so sicher war, klingt – nur wegen eines kleinen Objekts – ganz anders. Dieses Gefühl der Unsicherheit entspricht genau meinem Empfinden in Bezug auf die neue Normalität: Alles, auf das wir bisher gezählt haben, müssen wir neu denken. In dieser Situation finden wir neue Wege mit der Welt in Beziehung zu treten, genauso wie ich neue Wege auf meinem Gerät erkunde.“©_ANGELO_TRANI

Was genau man sich also darunter vorstellen kann? Naja, ehrlich gesagt nichts. Genau deswegen sollte man ja unbedingt bei diesem Stream einschalten, denn es werden nicht nur irgendwelche, neue Songs geboten, sondern wahrscheinlich ein absolut neues Klangerlebnis. Jazzpianisten sind fast schon wie geschaffen für Krisenzeiten. Stets darauf vorbereitet, zu improvisieren und ihr Spiel flexibel an überraschende Harmonien anzupassen, sind sie wahre Meister aus einer scheinbar aussichtslosen Situation noch etwas Positives rauszuholen. Absichtlich unabsichtlich werden Töne geboten, die man sich nicht erwartet. Auch wenn sie oft relaxed klingt, ist diese Art der Musik spannend und gefährlich. Dagegen wirkt selbst die schwärzeste, blutigste satansanbetende Metal-Band wie ein Schmusekätzchen. Diese mittlerweile so vorhersehbaren Riffs könnte man sogar nachts allein im Wald hören und dabei nicht mehr als ein leises Gähn-Geräusch rauspressen.

Wer also Lust hat einen Pianisten zu erleben, der nicht nur wie ein chinesisches Wunderkind durch reine Technik überzeugt, sondern wie ein verrückter Wissenschaftler sein Instrument mit allerlei Sound-Experimenten an die Grenze bringt, wird an diesem Stream sicher seine Freude haben. Wen das alles nicht so interessiert, kann auch einfach die Augen schließen und sich wie die Frau, die im roten Cocktail-Kleid auf dem Flügel liegt, von den Schwingungen tragen lassen. Doch auch hinsehen lohnt sich, ich persönlich liebe es professionellen Pianisten beim Spielen zuzusehen. Wie ihre Gesichtszüge sich mit den Klängen verändern und ihre Hände tentakelartig über die gesamte Klaviatur streichen. Was für ein Bild. Wer einmal einen Laien beobachtet hat, der verkrampft mit seinen Zeigefingern „Alle meine Entchen“ zum Besten gibt, weiß den Unterschied zu schätzen. Um das ganze wirre Geschwafel auf den Punkt zu bringen: Simone Graziano wird uns sicherlich für kurze Zeit etwas Harmonie in dieser unharmonischen Zeit bescheren. 

Fotos: (1) Simone Graziano; (2) Angelo Trani

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