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January 25, 2021

Sorge und Solidarität ausbuchstabieren: Eva von Redecker

Eva Rottensteiner

Kapitalismus zerstört das Leben und verwertet unseren Planeten. Wir erleben gerade eine soziale, ökologische, demokratische und jetzt auch noch eine gesundheitliche Krise. Zukunft aussichtslos? Nicht unbedingt. Eva von Redeckers philosophische Überlegungen geben Hoffnung auf eine „Revolution für das Leben“. So heißt das neue Buch der deutschen Philosophin, das sich mit aktuellen sozialen Bewegungen wie Black Lives Matter oder Ni Una Menos und deren Konzepten für einen sozialen Wandel auseinandersetzt. Für den Gesprächsabend „Denken ohne Geländer“ der Landesbibliothek Tessmann Bozen und TANNA wird sie ihre Expertise zur jüdischen politischen Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt einbringen. Die Veranstaltung findet am 26. Jänner 2021 um 18 Uhr online statt. Doch zuerst ist sie unser Gast …

Die Nationalität wird in manchen Südtiroler Diskursen immer wieder zum identitätsstiftenden Moment stilisiert. Hannah Arendt fände das problematisch. Was würde sie den Südtiroler*innen sagen?

Sie würde darauf hinweisen, dass Pluralität die Grundlage von Politik und sogar Individuen ist. Auch im Denken unterhalten wir ein Zwiegespräch mit uns selbst und bilden keine Einheit. Arendt dachte, dass man selbst ohnehin schlecht um seine Identität wissen könne – man gewinnt die schließlich im Handeln und Sprechen, also vor anderen Menschen. Was die nationalen Minderheiten angeht, hält Arendt diese Kategorie für einen Geburtsfehler des modernen europäischen Staatensystems, wie es besonders nach dem ersten Weltkrieg nochmals eingerichtet wurde. Die Idee eines national homogenen Staatsvolks kreiert innere Minderheiten, die dann oft um ihre Interessen bangen oder sich von der Staatspolitik entfremden. Das heißt aber nicht, dass man seine Herkunft oder kulturellen Eigenheiten vergessen sollte. Man soll sie nur nicht als Grundlage politischer Interessen ansetzen. 

Revolution bezeichnest du in „Praxis und Revolution“ als einen Prozess: Das Konzept einer neuen Welt ist eigentlich schon jetzt da, nur wartet es irgendwo in den Nischen der Gesellschaft darauf, dass es sich alle vorstellen können. Dein Revolutionsbegriff bringt Optimismus in diese zunehmend absurde Zeit. An welche Nischen denkst du gerade?

Im aktuellen Buch, „Revolution für das Leben“, versuche ich dem nachzuspüren. Ich konzentriere mich auf Momente von Solidarität und Weltwahrung, die in gegenwärtigen sozialen Bewegungen wie etwa Black Lives Matter oder der Klimagerechtigkeitsbewegung eingeübt werden und sich zum Teil in den Alltag verlängern lassen. Das gibt viel Hoffnung.

Momentan vereinnahmen Reichsbürger*innen, Coronaskeptiker*innen und Hippies den Revolutionsbegriff. Müssten wir, wie es Arendt raten würde, wieder mehr miteinander reden? Oder ist kollektive Fürsorge und Solidarität die Strategie dagegen?

Arendt plädiert ja vor allem für das Streiten. Und dafür, die Perspektiven der anderen zu konsultieren. Was aber nicht heißt, dass man immer den Querulanten mit der lautesten Stimme am längsten zuhören muss. Deren Perspektive kennt man ja meist eh schon zu Genüge. Und revolutionäre Situationen zeichnen sich auch dadurch aus, dass die verschiedenen Seiten einander wirklich unverständlich gegenüberstehen. Sie schöpfen aus verschiedenen Paradigmen. Und insofern verstehe ich unsere Aufgabe vor allem darin, das Modell der Sorge und Solidarität auszubuchstabieren. Wir müssen zeigen, dass es auf die Katastrophen, die die Rechten abstreiten müssen (also den Klimawandel, das Artensterben, den Verlust von menschlichen Lebensgrundlagen, der Menschen zur Migration zwingt, die Pandemie), menschliche Antworten gibt.

In deinem Buch „Revolution für das Leben“ geht es um Protestbewegungen, die das Leben verteidigen. Momentan ist zuhause bleiben und sich isolieren für viele die neue Form von „Leben schützen“. Ruhen sich da manche Linke nicht auch auf ihren Privilegien aus?

Ausruhen wäre gar keine so schlechte Reaktion auf eine Pandemie. Und die Linken, mit denen ich am meisten zu tun habe, setzen sich gerade unermüdlich dafür ein, dass die, die nicht im Homeoffice arbeiten, eine Weile zu Hause bleiben können. Und die, die kein zu Hause haben, in leerstehenden Hotels unterkommen. Und die, die in der Pflege arbeiten, wieder Arbeitsbedingungen bekommen, in denen sie sich überhaupt auch mal selbst ausruhen können. Einen Shutdown, nicht mit drakonischen Ausgangssperren nach Feierabend, sondern mit Anhalten der Produktion von vorübergehend verzichtbaren Waren. Dass es Leben schützt, zu Hause zu bleiben, ist ja keine modische Idee, sondern eine bittere Wahrheit angesichts eines gefährlichen Virus, der sich über Kontakte ausbreitet. Wenn jene, die die Bedingungen zur Isolation besitzen, nicht zu Hause blieben, wäre damit ja kein Privileg umverteilt, sondern vielmehr das Infektionsgeschehen verschlimmert.

Welche gesellschaftliche Rolle erfüllen Philosoph*innen heute bzw. welche sollen sie deiner Meinung nach erfüllen?

Uff, da mag ich weder eine Diagnose noch eine Empfehlung aussprechen. Ich beobachte, dass es ein anwachsendes Interesse an sehr existenziellen Grundfragen gibt – sicher auch eine Reaktion auf die tiefen Meinungsverschiedenheiten, die ich vorhin ansprach und die verunsichernd sein können. Aber diese Fragen kommen ja vor allem auf, weil wir eben unsere Lebensform stark ändern müssen, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten. So viele Menschen spüren das. Dann gibt es vielleicht auch eine gewisse Faszination für die Debattenausdauer der Philosophie. In Zeiten der Twitter-Gewitter sind solche über Jahrhunderte geführten Streitgespräche natürlich beeindruckend.

Werden wir mit der Abschaffung des Eigentums auch das Patriarchat los?

Nein. Ich kann mir sogar vorstellen, dass drastische materielle Umverteilung, wenn sie nicht mit tiefem Vertrauen in Solidarität einhergeht, das Patriarchat noch verstärkt. Zwischenmenschliche Unterdrückung kann als Ersatz für empfundene materielle Enteigung fungieren; ich nenne das Phantombesitz. Insofern plädiere ich neben einer solidarischen Vergesellschaftung von großem Reichtum auch für eine „Umschaffung“ des Eigentums. Wir müssen lernen, etwas ohne den Anspruch auf volle Verfügung besitzen zu können. Eine Abschaffung von Missbrauchsansprüchen, die Teil des modernen Eigentums sind, könnte dann in der Tat auch die zwischenmenschlichen Beziehungen freier und lebendiger machen.

Eva von Redecker ist Philosophin, Autorin und Publizistin. Sie zählt zu den führenden antikapitalistischen, feministischen Stimmen im deutschsprachigen Raum und bewegt sich an den Schnittstellen feministischer Philosophie und Kritischer Theorie. Von Redecker hat in ihrem Buch „Revolution und Praxis“ den Revolutionsbegriff neu interpretiert. Die Eigentumsgesellschaft und damit verbundene Herrschaftsverhältnisse gehören zu ihren philosophischen Überlegungen. Von Redecker hat Philosophie, Germanistik und Geschichte studiert und hat an der Humboldt-Universität Berlin, der Universität Cambridge (UK) und an der New School for Social Research (New York) gelehrt. Sie ist assoziiertes Mitglied des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität Berlin und hat auch das Center for Humanities and Social Change an der Humboldt-Universität mitaufgebaut. Eva von Redecker hat sich intensiv mit der Philosophie von Judith Butler und Hannah Arendt auseinandergesetzt. Aktuell ist sie im Rahmen des Marie Skłodowska-Curie Fellowship an der Universität Verona und forscht zu Autoritarismus und Phantombesitz.  

 

Credits: Paula Winkler 

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