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January 8, 2021

Aufzeichnungehen 08_Gehen: gedankenverloren

Allegra Baggio Corradi
Kunigunde Weissenegger
Zehn mal zwei Stunden gehen, jeweils vier mal dreißig Minuten in Aktion, zehntausend Schritte pro Abschnitt, insgesamt hunderttausend in zwanzig Stunden. Die Aktivität des Gehens steht im Mittelpunkt dieser Wanderung in Etappen von Erling Kagge. Bei der Durchquerung von Natur, Städten, sich selbst, Kunst, Büchern und der Erde, mit und ohne Ziel, von Oslo nach Bozen, ist der norwegische Weltwanderer bewegt, verändert sich, dankt und reagiert.

Wenn man geht, vermischen sich unwichtige Gedanken und Erlebnisse möglicherweise mit anderen, wichtigen Gedanken. Etwas Komisches und etwas Ernstes kann gleichermaßen von großer Bedeutung sein. Ein Spaziergang „erquickt und tröstet und erfreut mich“, erklärt der namenlose Autor, die Hauptperson in Robert Walsers Der Spaziergang dem Herrn Taxator. „Zu Hause eingeschlossen, würde ich elendiglich verkommen und verdorren.“ Der Taxator hingegen vertritt die Meinung, er solle weniger spazieren gehen und mehr Steuern bezahlen. Die namenlose Hauptperson versucht, ihn von diesem Gedanken abzubringen und erklärt dass die Spaziergänge wesentlich sind, um über etwas zu schreiben, und als Verleger weiß ich, dass er recht hat, wenn er ausführt: „Höchst liebevoll und aufmerksam muss der, der spaziert, jedes kleinste lebendige Ding, sei es ein Kind, ein Hund, eine Mücke, ein Schmetterling, ein Spatz, ein Wurm, eine Blume, ein Mann, ein Haus, eine Wolke, ein Berg, ein Blatt oder auch nur ein armes weggeworfenes Fetzchen Schreibpapier, auf das vielleicht ein liebes gutes Schulkind seine ersten ungefügen Buchstaben geschrieben hat, studieren und betrachten.“ [zit. aus „Gehen. Weiter gehen“, S. 19–20, Erling Kagge] bewegt-sein chronicles in ten thousand steps from the great north 02Bewegt sein: „Norwegisch røre sig und bevege sig bedeuten „sich bewegen“ und „sich rühren“ und bli rørt und bli beveget „bewegt sein“ und „gerührt sein“. 

Es gibt unzählige Studien, durchgeführt von den renommiertesten Universitäten der Welt, in den letzten Jahrzehnten, die auf die positive Wirkung von Gehen hinweisen. Laut einiger Wissenschaftler*innen spielt im Kreativitätsprozess auch das divergente Denken eine Rolle; das bedeutet, sich mit einem Thema offen, unsystematisch und experimentierfreudig zu beschäftigen; das Gegenstück wäre das konvergente Denken, bei dem es um gewöhnliches, lineares, streng rational-logisches Denken geht. Und erst vor Kurzem warnte die Weltgesundheitsorganisation wieder vor Bewegungsmangel. Die Statistiken besagen eine stete Zunahme von Inaktivität Jahr um Jahr. Diese Zahlen und Schätzungen bestätigen, was manche Autor*innen, Denker*innen, Reisende, Künstler*innen, Forscher*innen und so weiter seit einigen Jahrhunderten behaupten: Gehen regt das Denken an. Dabei geht es nicht nur darum, Gedanken in Bewegung zu setzen, sondern dem Geist Beine zu verleihen, damit er sich, unabhängig von unserem Willen, sozusagen in Eigenregie, über die Grenzen des Schädels hinaus ausdehnen kann.

Als Verleger kennt Erling das Bedürfnis von Autor*innen, sich für einige Minuten oder für Stunden bei einem Ausflug mit oder ohne Ziel zu verirren und zu verlieren aus erster Hand. Sie erzählen ihm alle dasselbe: Nach stundenlangem Sitzen und Liegen, über Texten Brüten und Auf-sich-selbst-konzentriert-Sein ist Bewegung ein naheliegendes Bedürfnis. Gehen bedeutet für eine*n Autor*in auch verdauen. Jeder Schritt ist eine Bewegung hin zur Aufnahme und Verarbeitung der Nahrung und der Begrifflichkeiten, die zuvor aufgenommen worden sind. Schritt für Schritt wird absorbiert, was man zuvor gekaut hat, aber auch, was man unbewusst zu sich nimmt. Sich in den Straßen von Orten zu verlieren, ohne genau zu wissen, wohin der eigene Weg führt, lenkt uns zur unbewussten Verdauung visueller und olfaktorischer Reize, die sich langsam in unserem Körper festsetzen. Eine Wanderung mit einer Landkarte in der Hand hingegen stimuliert eine gewollte Verdauung von Flüchtigem. Der Unterschied zwischen dem Gehen, das dem Verlust des Selbst in der Welt nachjagt, und dem Gehen, das einem bestimmten Weg folgt, liegt in der Absicht. Auf der einen Seite das Wollen, auf der anderen der Akt des Wollens. Wer aber geht, sollte mit großer Sorgfalt und Liebe jedes noch so winzige Lebewesen studieren und beobachten, denn nur so werden die besten Bücher geschrieben.sich-veraendern chronicles in ten thousand steps from the great north 02Sich verändern: „Damit alles, was uns umgibt, nicht nur schön ist, sondern auch erhaben, muss sich in unseren Köpfen ein Wandel vollziehen.“ 

Ich bin dieselben Straßen abgelaufen wie die Protagonisten in James Joyces Ulysses und in Knut Hamsuns Hunger – in der Hoffnung, mehr von ihrem Körper und Geist zu verstehen. Ein Roman wie Hunger liest sich anders, wenn man sich in derselben Umgebung bewegt hat wie der namenlose hungrige Erzähler, auch wenn man gerade gegessen hat. Die Karl Johan gate vor dem Grand Hotel in Oslo war zur Abendzeit „ein Sumpf, aus dem heiße Dämpfe aufstiegen“, schreibt Hamsun – die Beschreibung passt noch immer. Und fünf Minuten Fußweg davon entfernt: „Vor einem Speisekeller in der Storstraße blieb ich stehen und überlegte kalt und ruhig, ob ich mich erdreisten sollte, sogleich eine kleine Mahlzeit zu genießen.“ Die Storgata sieht heute noch so aus wie 1890, als der Roman erschien, und noch immer laufen hungrige Obdachlose über den Bürgersteig. Für mich sind solche Beobachtungen kleine Köder, die mir zu einer größeren Wirklichkeit verhelfen – oder zur Fiktion. [zit. aus „Gehen. Weiter gehen“, S. 53, Erling Kagge] 

Der Unterschied zwischen Gehen, um dem eigenen Willen zu frönen, und der Bewegung, um einen Willen zu befriedigen, ist minimal, aber ausschlaggebend. Als Erling beschloss, durch die Straßen Dublins zu laufen, um sich mit Joyces Geschichten zu identifizieren, wurde er von einem Willen bewegt. Als er in der Storgata auf hungrige Obdachlose zuging, reagierte er auf eine Willensäußerung. Was beide Erlebnisse bei mir hinterlassen haben, hat sich während der anschließenden Wanderverdauung in Gedanken verwandelt und diese schließlich in Worte, die in Kagges Buch über das Gehen eingeflossen sind. In dieser Situation hat Erling verstanden, was die Autor*innen gemeint hatten, als sie ihm von der Entstehung ihrer Werke erzählten. „Das Wort ist ein Kind der Schritte“, sagte einmal ein Dichter zu ihm. Wie beim innigen Tanz eines Paares folgt ein Fuß dem anderen ohne sich je zu berühren. Ein Buchstabe folgt dem nächsten, wie die Noten auf den fünf Zeilen sitzen sie dicht beieinander, ohne sich je zu begegnen. Worte entstehen in der Bewegung und erzeugen Bewegung. Als Erling selbst zum Autor wurde, hat er begriffen, was es bedeutet, den Bewusstseinsstrom, der beim Gehen entsteht, in Gedanken umzuwandeln.

Wie James Joyces Romanheld Leopold Bloom ging Erling zunächst zum Postamt, um einen Liebesbrief abzuholen, den er sich selbst geschickt hatte. Er hatte ihn an Henry Flower adressiert. Filautia. Beim Verlassen des Postamtes sprach er irgendeinen Fremden an und tat so, als sei er ein Bekannter; während er sich mit ihm unterhielt, schweifte sein Auge auf die andere Straßenseite ab, fixierte etwas und … genau dann fuhr eine Straßenbahn vorbei, versperrte ihm die Sicht. Ohne sich zu verabschieden, ließ er den Fremden stehen, ging weiter, in die erstbeste Kirche. Drinnen nahm Erling ein Singbuch in die Hand und tat so, als ob er meditiere. Plötzlich sprang er auf, verließ den Ort, ging in einen Gemischtwarenladen und kaufte ein Stück Zitronenseife. Schließlich besuchte er die öffentlichen Bäder. Und er hatte kapiert, dass man, um Ulysses zu verstehen, ihn „ablaufen“ musste. Ihm wurde schließlich klar, dass er, um sein erstes Buch zu schreiben, die Wege zurückgehen musste, die er bis dahin beschritten hatte. In seinem Kopf.

danken chronicles in ten thousand steps from the great north 02Danken: „Zwei ungeschriebene Regeln sollte man stets versuchen einzuhalten: Erstens: Sei freundlich. Zweitens: Hinterlasse eine Hütte, wie du sie vorgefunden hast. Das Einzige, was du hinterlassen musst, ist Dankbarkeit.“ 

Als der griechische Philosoph Diogenes mit der Behauptung konfrontiert wurde, es gäbe keine Bewegung, erwiderte er: „Solvitur amulando – es wird beim Gehen geklärt.“ Sokrates ging in Athen umher, stellte Fragen und unterhielt sich. Charles Darwin machte zwei Mal am Tag einen Spaziergang und hatte buchstäblich seinen eigenen Weg zum Denken. Søren Kierkegaard war wie Sokrates ein Straßenphilosoph. Er flanierte durch Kopenhagen – „Ich bin zu meinen besten Gedanken gegangen“ –, stellte Fragen, legte den Arm um Menschen, begleitete sie ein Stück, bekam Antworten, ließ sie los und ging allein weiter. Dann lief er nach Hause, wo er kaum jemanden empfing, und veredelte die Eindrücke der Straße in Büchern. [zit. aus „Gehen. Weiter gehen“, S. 78–79, Erling Kagge] 

Nach seiner Ulysses-Erfahrung, zurück aus Dublin, fing Erling mit dem Niederschreiben von „Gehen. Weitergehen. Eine Anleitung“ an. Die Lösung hatte er beim Gehen gefunden, ohne sich als angehender Autor die Frage gestellt, die Antwort gesucht zu haben, ohne die chaotischen Gedanken in seinem Kopf bewusst geordnet zu haben. In dem Moment, in dem er Leopold Blooms Tage Revue passieren ließ, schlüpfte er in seine Schuhe, bewegte er sich mit Leichtigkeit durch die Straßen einer ihm unbekannten Stadt und eroberte Neuland.

Versunken in den endlosen Strom von Wörtern, schrieb und schrieb Erling, Stunde um Stunde hagelten auf die Seiten seines dünnen Notizbuches Buchstaben. Die Mittagszeit rückte näher und auch bei Erling kreisten die Gedanken wie bei Bloom mehr und mehr ums Essen: Er dachte an die verschiedenen Gerichte und Orte, an denen er während seiner Ausflüge zu den vier Erdpolen mehr oder weniger angenehm gegessen hatte. Schließlich stand er auf und entschloss sich dazu, in der lokalen Version des Hotel Burton Mittag zu essen. Dort angekommen verließ er das Lokal gleich wieder, angewidert von Männern, die wie die Tiere aßen. Er ging in die erstbeste Kneipe, die er fand, bestellte ein Gorgonzola-Brot und trank ein Glas Wein. Er dachte über die Anfänge seiner Beziehung zu seiner Frau nach und machte sich auf den Weg zum norwegischen Nationalmuseum, sich griechische Statuen anzusehen. Auf der anderen Straßenseite sah Erling seine Frau und stürzte aus der Museumstür. Bald darauf kehrte er in sein Haus zurück, in das sonst niemand außer er Zutritt hatte, und ergoss seine draußen gesammelten Eindrücke auf das Papier in seinem Notizbuch.reagieren chronicles in ten thousand steps from the great north 02Reagieren: „Gehen kann ein Leben lang dauern. … manchmal geht man in eine Richtung und kehrt dann wieder zum Ausgangspunkt zurück.“

Nach seiner Rückkehr aus Dublin folgte Erling in Oslo noch für geraume Zeit Blooms Schritten. Eines schönen Tages beschloss er, zum Haus des Mannes zu gehen, der ihn einmal von zu Hause zum Flughafen gefahren hatte und zwar anlässlich seiner letzten Reise in die USA, wo er durch den Untergrund von Las Vegas ging, inmitten des Gestanks dieser verborgenen Seite der Stadt. Im Haus des Fahrers begegnete er einem betrunkenen alten Seemann und begann, inspiriert von seiner Heiterkeit, eine Melodie von Johann Jeep zu trällern. Er stand nicht wirklich auf Barock, aber diese Anhäufung von Tönen hatte etwas Betörendes. Euphorisch fing er an, mit dem Fahrer, der jedem seiner plötzlichen Themenwechsel folgte, über Frauenfeindlichkeit zu diskutieren. Der Abend war etwas mühsam, weil der Fahrer eigentlich nur sprach, wenn er direkt angesprochen wurde, was Erling dazu führte, ihm unaufhörlich Fragen zu stellen. Die Zeit verstrich äußerst schleppend und schließlich endete ein schwerfälliger, mühsamer Tag. Der illuminierte Wortfänger ließ sich vom Fahrer nach Hause bringen und stürzte sich auf sein Notizbuch, um die Eindrücke, die er gesammelt hatte, niederzuschreiben. 

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