Josef > Nature

December 23, 2020

Moreness in December. Tag Dreiundzwanzig: Fanes

Christine Kofler
In die Höhe zieht es viele. – Wirklich? Gebirgsmassive wollen sie sehen. – Echt jetzt? Raue Luft wollen sie spüren. – Ernsthaft? … –– Berge müssen zurzeit viel aushalten … Wir haben überlegt, wir möchten uns mit dem Thema, wie wir es bereits in MORENESS getan haben, anders und ausgeprägter befassen. Von 1. bis 31. Dezember veröffentlichen wir Gedanken, Überlegungen und Anregungen. Das ist kein Countdown, kein Ratgeber und erst recht kein Adventskalender, sondern ein aufmerksamer Blick auf die Berge, die uns umgeben.

 

Berge interessierten mich nicht, allenfalls, was dahinter lag. Ich erinnere mich nicht mehr, warum ich mir ausgerechnet eine Hütte in den Dolomiten aussuchte, um mein Studienbudget aufzubessern. Sicherlich war mir nicht klar, wie hoch sie stand (2.100 m), wie einsam sie lag (2 h Fußmarsch ins Tal) und wie kalt es war (Schnee im August).

Da saß ich nun im rüttelnden Jeep des Hüttenwirts. Langsam schraubte sich das Auto über Schotterpisten in die Höhe, links und rechts Abhänge und Spalten im karstigen, grauen Gestein, einsame hölzerne Strommasten, stachelige Steppengewächse. Gipfel, Geröll, Latschenkiefer, Geröll, noch mehr Latschenkiefer, ein Adler. Wir erreichten die Faneshochfläche in den Dolomiten.

Schon in der ersten Woche war die Ödnis so allumfassend, die Langeweile so erdrückend, dass ich das einzige Buch der Hütte – Goethes Italienische Reise – von vorne bis hinten las. Zwei Mal. Ich kam zum Schluss, dass der Text viel über Goethe, den Autor, aussagte, aber wenig über das damalige Italien. Und dass dieses Prinzip für die meisten Reiseberichte und Naturbetrachtungen galt. Ich teilte mir ein winziges Zimmer mit einer schlechtgelaunten slowakischen Kollegin. Der Strom an Besucher*innen schwoll jeden Tag an, bis die Hütte im August überquoll mit Natursehnsüchtler*innen aus aller Welt. Ja, ich sah Menschen in Ballerinas und Budapester über Geröllhalden stapfen. Menschen, die auf 2.100 m nach raffinierten Fischgerichten verlangten. Menschen, die Verletzungen vortäuschten, um vom Hüttenwirt per Jeep ins Tal kutschiert zu werden. 

An freien Tagen streifte ich durch die Mulde Kleinfanes, watete im Hochmoor umher und fischte ungläubig ein Fossil nach dem anderen aus dem Wasser. Schneckenähnliche Ammoniten, spinnenähnliche Insekten, insektenähnliche Pflanzen. Überbleibsel des tropischen Thetysmeeres und vor Millionen von Jahren in Stein gebannt. Ich lag im Gras, das steinerne parlamento delle marmotte im Blick. Sobald ich eindöste, weckten mich die scharfen Pfiffe der Murmeltiere. Noch vor Jahrzehnten waren sie hier fast ausgestorben, weil sie im Ersten Weltkrieg von den Soldaten gejagt und gegessen wurden. Hie und da rollte mir eine Patrone vor die Füße.

Ich badete im mythischen Grünsee, in dem sich die Gipfel spiegelten. Vom ebenso legendären Hüttenwirt Max wusste ich um die Bedeutung des Sees in der Fanes-Sage. Die Schauplätze dieser Ladinischen Sage, die so reich ist, dass sie in die Nähe der klassischen Epen gerückt wird, lagen rund um die Hochfläche. Ich suchte nach den Überresten des ciastel del Fanes, sprach mit Murmeltieren, begegnete der steinerne Urmutter Tanna. Schritt für Schritt durchwanderte ich Zeiten und Landschaften. Das Geröll, die Gipfel, die Kiefer. Die Stille, die Sterne.

Als ich nach drei Monaten ins Tal abstieg und zum ersten Mal wieder einen Supermarkt betrat, stand ich völlig überwältigt vor dem Regal mit Dutzenden bunten Shampooflaschen. Ich wusch mein Haar mit Wasser. Am liebsten wäre ich, wie Moltina, die Fürstin der Fanes, wieder hinaufgestiegen zu den Höhlen der Murmeltiere und hätte mich zwischen ihr weiches Fell gelegt.

  

WEITERFÜHRENDES FÜR TAG DREIUNDZWANZIG:  

* „Im Reich der Fanes“ von Zeno Kastlunger, Graphic Novel, Athesia Tappeiner Verlag, 2018.

* „Die Frauen aus Fanis“ von Anita Pichler, Geschichte aus der Sagenwelt der Dolomiten, Haymon Verlag, 1992: Die Südtiroler Autorin erzählt von den wilden Frauen aus dem sagenhaften Reich der Fanes.

* „Kritische Lektüre der Dolomitensagen“ von Karl Felix Wolff von Ulrike Kindl, Band II: Sagenzyklen – Die Erzählungen vom Reich der Fanes, Istitut Ladin Micurà de Rü, San Martin de Tor, 1997.

* „Terra marique“ von Daniel Depellegrin  in MORENESS #01 über die Entstehung der Dolomiten. 

 

 Bild: Auszug aus MORENESS #01 – Above the Tree Line 

Print

Like + Share

Comments

Current day month ye@r *

Discussion+

There are no comments for this article.

Archive > Nature