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December 7, 2020

Moreness in December. Tag Acht: Da, wo andere Urlaub machen …

Ben Ratschiller
In die Höhe zieht es viele. – Wirklich? Gebirgsmassive wollen sie sehen. – Echt jetzt? Raue Luft wollen sie spüren. – Ernsthaft? … –– Berge müssen zurzeit viel aushalten … Wir haben überlegt, wir möchten uns mit dem Thema, wie wir es bereits in MORENESS getan haben, anders und ausgeprägter befassen. Von 1. bis 31. Dezember veröffentlichen wir Gedanken, Überlegungen und Anregungen. Das ist kein Countdown, kein Ratgeber und erst recht kein Adventskalender, sondern ein aufmerksamer Blick auf die Berge, die uns umgeben.

 

Es ist ein Segen und ein Fluch (und ein scherzhaftes Sprichwort im lokalen Volksmund): Wir wohnen da, wo andere Urlaub machen, ob wir wollen oder nicht. Wer wie ich beruflich +-80 % seiner Butter auf dem Frühstücksbrot mit dem Tourismus verdient, bekommt das live aus erster Hand mit. Zum einen finde ich das prächtig, ich liebe meine Heimat – und andere davon zu überzeugen, sie ebenfalls lieben zu lernen, und dabei auch noch moderate Summen zu verdienen, ist prima. Zum anderen nagt mir aber auch konstant der Zweifel in der Brust, dass ich damit oft vielleicht gegen meine persönlichen Überzeugungen verstoße.

Ich muss vielleicht ein wenig weiter ausholen. Das hier ist kein flammendes Manifest gegen die Urlauber, die unser schönes Land besuchen, oder die Menschen und Betriebe, die sie mit offenen Armen empfangen. Um Himmels willen, nein. Ich liebe es, Menschen aus aller Herren Länder kennenzulernen und ihnen meine Heimat näherzubringen. Ich bin ebenso Kind der Berge wie freier Weltbürger. Der Tourismus ist ein wichtiges Element unserer Wirtschaft und darf und muss das auch sein. Das alles meine ich nicht, keinesfalls. Auch will ich mit dem Nachfolgenden keinen Elitismus suggerieren, dass nur der Anrecht auf die Berge hat, der ohne Pause vom Fuß bis zum Gipfel und zurück stapft, am liebsten im T-Shirt und mit den Händen auf dem Rücken. Hier geht es nicht um so etwas. Auch der Wintertourismus mit seinem Skizirkus als spezifischem Phänomen erfordert nochmals eine andere Sichtweise, über die ich an anderer Stelle 15.000 Wörter schreiben könnte und vielleicht irgendwann werde.

Was mich aber, persönlich, ganz abgesehen von meinem Brotberuf, gar fürchterlich ankotzt, ist die verklärte Romantik, das Geschwafel, die austauschbaren, nichtssagenden, süßlichen Liebeleien, die man den Bergen in meiner Branche nachwerfen soll und muss und gar nicht anders kann. Die Sprache ist ein Werkzeug, das aufbauen und zerstören kann. Ich bin gut darin, ich habe jahrelange Übung, ich weiß, was meine Auftraggeber wollen, weil diese wiederum wissen, was ihre Kunden wollen.
Trotzdem zuckt mir manchmal das Augenlid im Sekundentakt, wenn ich das 800. Mal von „hochalpinen Wohlfühloasen mit atemberaubendem Panoramablick auf die märchenhafte Bergwelt“ schreiben muss, und es verkaufen soll wie das erste Mal.
Wenn ich Artikel schreiben darf über „5 leichte 3.000er für Anfänger“ und „Unsere 10 liebsten Gipfelkreuze für das perfekte #Bergselfie“.
Wenn ich eine neue topmoderne Seilbahn als „willkommene Abkürzung für Bergfans ohne Kondition“ (sic!) anpreise.
Wenn ein Kunde von mir bei meinem sarkastischen Vorschlag, auf einer Schutzhütte ein McDonald‘s zu eröffnen, wartet, bis ich selbst lache, bevor er einstimmt – weil er im Hinterkopf die idiotische Idee vielleicht auch schon hatte (falls du das liest, liebe Grüße!).

Wenn ich Formulierungen verwenden muss wie „Der [Name des Bergs] wartet auf Sie und freut sich schon, Sie mit [vermeintliches Alleinstellungsmerkmal] zu beglücken!“ Hier kann man jeden beliebigen einsetzen; es liegt in der Natur unseres Landes, dass jede größere Ortschaft „ihren“ Berg hat, und er der BESTE ist.

NEIN.
Genug.
Wenn man ihn schon personifizieren muss, dann richtig.

Der Berg wartet auf niemanden und will auch niemanden beglücken.
Der Berg ist Pi mal Daumen 25 Millionen Jahre alt und wir sind in seinem Zeitverständnis ein leiser Furz im Sturmwind der Äonen.
Der Berg kümmert sich einen Dreck um die kleinen Menschlein, die emsig auf ihm herumwuseln.
Dem Berg ist es egal, wenn eines dieser Menschlein seinen Gipfel erreicht, oder auf dem Weg dahin in eine Gletscherspalte stürzt und sein unverdient frühes Ende findet.
Der Berg bleibt, wo er ist, und bis auf den Zorn gewisser gigantischer Gestalten aus Märchen und Mythen oder verheerende Naturkatastrophen wird daran so bald niemand etwas ändern.
Der Berg will seine Ruhe und wer ihn stört, der soll gefälligst leise sein.
Der Berg ist gleichgültig, egoistisch und ignorant.

Und das ist gut so. Verklären wir den Berg nicht als Alpin-Disneyland sponsored by [Funktionswäschehersteller] & [Wanderschuhoutlet]. Finden wir zurück zu den Wurzeln unseres Verhältnisses zum Berg. Zur flüsternden Ehrfurcht, zum Adrenalinrausch, zur vorsichtigen Störung des Friedens, zum Respekt vor den Gefahren, zum wohlverdienten Status als majestätischem Naturdenkmal, dem man in früheren Zeiten Opfer brachte, um die an seiner Spitze thronenden Geister (guter oder böser Natur) gnädig zu stimmen. 

Ich sage nicht, dass wir uns den Berg nicht als Freizeitbeschäftigung und Vorzeige-Ausflugsziel erhalten können und sollen. Dass wir, sei es in Mentalität als auch Ausrüstung, zu den Zeiten eines jungen Messner oder Kammerlander zurückmüssten. Oder dass wir ab jetzt vor und während jeder Wanderung Mantras à la „Oh Großer Berg, verzeihe uns diese Schändung deiner Ruhe, wir sind deiner Besteigung nicht wert“ murmeln müssen.

Aber geben wir dem Berg wieder etwas von seiner Würde zurück. Er hat seit grauer Vorzeit unsere Kultur und Lebensweise geprägt, zeigen wir uns dankbar. Jeder von uns hat „seine“ Berggeschichte, ob gut oder schlecht, ob spannend oder langweilig, ob selbst erlebt oder überliefert, ob bierernst oder zum Schreien komisch, ob mit kurzen knappen Sätzen berichtet oder dem Feuereifer eines Predigers vorgetragen.

Lassen wir den Berg hochleben, indem wir diese Geschichten erzählen. Ganz ungeschönt und so, wie sie erzählt werden wollen. Ohne atemberaubendes 360°-Panorama und das Gipfelkreuz der Woche.

Weg mit dem Geschwafel, her mit der echten Leidenschaft. Weniger #bergselfie und mehr #bergstories.

 

WEITERFÜHRENDES FÜR TAG 8:

* „The Alps. A Human History from Hannibal to Heidi and Beyond“ von Stephen O’Shea: Kurzweilig und mit fundiertem Wissen, mal lieb und adrett und mal sarkastisch und böse, besucht und beschreibt O’Shea (als Kanadier relativ unbefangen) die Alpen und gibt nach Herzenslust seinen Senf dazu. Zwar hat er ihren Süden leider großteils ausgelassen und manche seiner Geschichten sind dann doch etwas eigenwillig interpretiert. Doch macht er dies mit einer erfrischenden, liebevoll-ironischen Erzählstimme wett, die sich definitiv vom üblichen Gesülze abhebt.

* „Das Buch der mystischen Orte in den Alpen. Von sagenhaften Bergen, verwunschenen Seen und magischen Höhlen“ von Eugen E. Hüsler: Hüsler, sonst eher für Sachbücher und Wander- oder Kletterführer bekannt, erzählt von geheimnisvollen Seen, mythischen Gipfeln, alten Quellen, sagenumwobene Burgruinen, rätselhaften Höhlen und mystischen Kultstätten, ohne dabei ins Schwärmerische oder gar Esoterische abzudriften. Eine Liebeserklärung an Kraftplätze und magische Orte, die ganz ohne verklärte Romantik und marktschreierische Superlative auskommt.

„Das Geschäft mit dem Berg“ von Verena Pliger in MORENESS #01 über Innovation und beflügelten Unternehmergeist am Berg.  

 

Bild: Auszug aus MORENESS #01 – Above the Tree Line 

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