Music

October 30, 2020

Die Hip-Hop-Avantgarde: Spinelly

Florian Rabatscher

So wie es aussieht, können wir uns wieder länger auf eine konzertlose Zeit einstellen. Aber nichtsdestotrotz gibt es zumindest immer noch diese auf ewig eingebrannten Klänge für zuhause, sei es auf Vinyl, Tapes, CD oder ganz praktisch zum Streamen. Da Konzerte, bei denen schwitzende Körper gemeinsam zu Musik feiern, gerade eher als kriminelle Handlung angesehen werden, freuen wir uns umso mehr auf neue Veröffentlichungen von KünstlerInnen. Eine gewisse Verbindung schaffen diese doch auch, denn, wer weiß, vielleicht hört genau zur selben Zeit jemand genau den gleichen Track wie du. Eine wahrhaft zuckersüße Vorstellung in solch bitteren Zeiten. Auch wenn es gerade live wenig gibt, Releases gibt es massig, weil tapfere MusikerInnen sich durch diese kulturelle Dürreperiode kämpfen und mehr Zeit dafür zu haben scheinen. Um euch nun diese goldene Ära der vielen Verbote etwas zu versüßen, stelle ich euch eine besondere musikalische Veröffentlichung vor, die genau heute frisch rausgehauen wurde. Freitag ist Release-Tag und der heutige kommt aus einer Musikszene, die von unserer provinziellen Vorstellungskraft so weit entfernt ist, dass sogar der Mars nah erscheint.spinelly2

Darf ich vorstellen: Spinelly, eine aufstrebende Turntable-Akrobatin und Produzentin aus Zams in Tirol. Ja, genau Zams. Wer diesen Ort auf der Karte sucht, sollte eine Lupe benutzen. Ein Ort, der auch ihre letzte EP „Disconnected“ inspirierte, die während des Lockdowns veröffentlicht wurde. Ziemlich passend, denn in Zams waren sie schon Disconnected bevor es alle anderen waren. Mittlerweile lebt sie in Wien, war bereits mehrmals auf Radio FM4 mit prominent platzierten Mix-Beiträgen zu hören, ist im Wiener Club „Celeste“ regelmäßig hinter den Decks und auch in Clubs weit über die Stadtgrenzen hinaus ein gern gesehener Gast. Warum das alles? Weil ihr experimenteller Hip-Hop-Elektronik-Sound alle Genregrenzen sprengt. Sie mischt Hip-Hop mit Grime, Halfstep-D’n’B und (wem das alles nicht viel sagt) eigentlich mit allen möglichen Arten der Bassmusik. Nicht verwunderlich also, dass Spinelly aus dem Umfeld des berüchtigten Labels Duzz Down San kommt, die eben genau für diesen avantgardistischen Hip-Hop-Sound bekannt sind, der nicht nur trendy, sondern technisch maßgebend ist. Spinellys neuestes Werk nennt sich „Mirrors EP“. Damit wagt sie einen Blick in den Spiegel und verarbeitet auf vier Tracks diverse Begegnungen und Erkenntnisse aus den Schatten der zwischenmenschlichen Projektionen. Wir hören einen Mix aus Synthesizern und Einflüssen von Bassmusik, gepaart mit ihren rhythmischen Wurzeln aus dem Hip-Hop. Grob zusammengefasst: Ein Industrial-Hip-Hop-Märchen, das mit den dazugehörigen Bildern ein wahres Gesamtkunstwerk ergibt.

Wenn man sich darauf einlässt, wird man beim Reinhören auch sofort in eine andere Welt befördert, was für Hip-Hop nicht gerade Standard ist. Also zappt bitte nicht wie bescheuert zwischen den Tunes herum und gönnt es euch als Ganzes. Lasst die Gedanken schweifen und begebt euch in eine surreal düstere Landschaft. Die EP erinnert irgendwie an die unkonventionell brachialen Klänge von Kanye Wests bestem Album „Yeezus“. Mein Gott, wie ich diese Scheibe doch vergöttere. Auch wenn die Musik von Spinelly anfangs sehr minimalistisch erscheint, werdet ihr schnell merken, wie viel mehr darin steckt. Beispielsweise der Track „Medusa“ ist so mystisch, dass sogar Tolkien selbst daraus eine Geschichte gezaubert hätte. Ich sehe eine Welt, in der die Mitglieder des Wu-Tang-Clans als finstere Shaolin versuchen den Erzbösewicht Suge Knight zu bekämpfen. – Sozusagen ein Herr der Ringe im Hip-Hop-Style, mit Flavor Flav als Frodo. – Ok, ich drifte ab, aber schuld daran ist einzig und allein dieser Sound. Denn wie gesagt, so minimalistisch ist er gar nicht. Wem das alles zu viel ist, der kann auch ganz einfach seinen Speck dazu schütteln, denn hier reichen allein schon die Drum-Parts aus, um es für Gut zu befinden.spinelly3

Fazit: Mirrors klingt dunkel frisch und das ganz ohne nervige Auto-Tune-Stimme. Die Independent-Szene lebt also doch noch und nicht nur von Trappern, die aus dem Nichts von Soundcloud in die Charts schießen. Das hier, ist wirklich ernstzunehmender Sound und die Botschaft, dass selbst schwere Zeiten etwas Gutes haben … Nehmt nur Bands wie Joy Division als Beispiel, welche die Inspiration zu ihrem Sound auch aus der Eintönigkeit der grauen, englischen Industriestädte zogen. Wenn solch dunkle Musik von diesen finsteren Zeiten inspiriert wurde, dann ist es für mich ein weiterer positiver Aspekt. Eine positive Tristesse sozusagen. Prägt euch den Namen Spinelly gut ein, denn wir werden sicher noch mehr von ihr hören.  

Fotos: R. Moser

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