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October 9, 2020

Aufzeichnungehen 02_Gehen: allein

Allegra Baggio Corradi
Kunigunde Weissenegger
Zehn mal zwei Stunden gehen, jeweils vier mal dreißig Minuten in Aktion, zehntausend Schritte pro Abschnitt, insgesamt hunderttausend in zwanzig Stunden. Die Aktivität des Gehens steht im Mittelpunkt dieser Wanderung in Etappen von Erling Kagge. Bei der Durchquerung von Natur, Städten, sich selbst, Kunst, Büchern und der Erde, mit und ohne Ziel, von Oslo nach Bozen, ist der norwegische Weltwanderer bewegt, verändert sich, dankt und reagiert.

bewegt-sein chronicles in ten thousand steps from the great north 02

Bewegt sein: „Norwegisch røre sig und bevege sig bedeuten „sich bewegen“ und „sich rühren“ und bli rørt und bli beveget „bewegt sein“ und „gerührt sein“. 

Die Landschaft ist karg und monoton, einförmig und reizlos, ein Stein-Staub-Stock gleicht dem anderen, alles ist flach und glatt und faltenlos und nichtssagend, besondere Merkmale sind Mangelware, alles dieselbe fade Farbe, nichts nichts nichts ändert sich, für Stunden immer dieselben Regelmäßigkeiten, Formen, Kehren, Kurven und Wenden, dieselben Biegungen, Windungen und Krümmungen,  Einbuchtungen, Vertiefungen, Mulden und Kerben, dieselbe Sicht, dasselbe Licht, dieselbe Temperatur, nichts nichts nichts ändert sich, die Zeit steht still, Minuten Stunden Sekunden vergehen nie, die Zeit steht still, die Zeit steht, kein Hunger, kein Durst, keine Laune, keine Lust weiterzugehen, Langeweile macht sich breit.

Zuerst ergriffen und bewegt von der Natur, macht sich in Erling eine innere Unruhe, ein innerer Konflikt breit, er stellt sein Gehen, das er ja zum Gedankenfließenlassen und Insichgehen ausübt, in Frage. Was, wenn sich Hippokrates geirrt hat? Was, wenn es doch besser ist, zu stehen und nicht zu gehen? Was, wenn es besser ist, sich in Gesellschaft aufzuhalten und nicht allein mit sich zu beschäftigen, wenn selbst die Natur kein guter Begleiter ist? Außerdem spricht diese Natur nie Tacheles wie ein Mensch, sondern schweigt, und mutiert langsam und träge, sodass man meint, sie ändere sich nie. 

Ich weiß, dass es anderen gelingt, beim Laufen klare Gedanken zu fassen, aber ich ziehe ein langsameres Tempo vor. Wenn ich gehe, lass ich meine Gedanken fließen. Mein Kreislauf wird in Schwung gebracht, und wenn ich mich entscheide, mein Schritttempo zu steigern, nimmt mein Körper zusätzlichen Sauerstoff auf. Mein Kopf wird klarer. Wenn ich sitze und das Telefon klingelt, stehe ich auf und gehe während des Gesprächs umher. Erinnerung, Konzentration und Laune verbessern sich bereits nach einigen wenigen Schritten. Der Zusammenhang spiegelt sich auch in den Begriffspaaren „sich bewegen“ und „bewegt“ sein beziehungsweise „sich rühren“ und „gerührt sein“ wieder. „Wenn du schlechte Laune hast, geh spazieren“, riet Hippokrates, und wenn du danach noch immer schlechte Laune hast, lautet sein Rat: „geh noch einmal spazieren“. [zit. aus „Gehen. Weiter gehen“, S.79–80, Erling Kagge]sich-veraendern chronicles in ten thousand steps from the great north 02

Sich verändern: „Damit alles, was uns umgibt, nicht nur schön ist, sondern auch erhaben, muss sich in unseren Köpfen ein Wandel vollziehen.“

Erling versteht langsam … Die Natur rundherum ist sein Spiegelbild und reflektiert sein Innerstes. Unmut und Ärger klären sich. Die Langeweile, die sich beim Gehen durch die Naturlandschaft ausgebreitet hat, verflüchtigt sich und er versteht, dass sie nicht die Ursache für seine Unzufriedenheit ist. Er begreift, dass die Veränderung, die Umgestaltung, der Wandel in unserem Kopf stattfinden müssen. Damit wir erkennen, was mit uns los ist. Weil wir meistens dazu neigen, zu projizieren und anderem die Schuld zuzuweisen, wofür wir allein verantwortlich sind. Langeweile und Unmut sind persönlichste Gefühle, die stark mit unserer hektischen Lebensweise zusammenhängen – ständig wollen wir unterhalten werden, vernetzt und abgelenkt sein und machen uns so zu Gegenspielern der Stille.

Der Natur müssen wir uns allein stellen, ohne nichts und allem, was uns unterhält, ablenkt oder belustigt. Diese Haltlosigkeit irritiert uns, reizt uns, ärgert uns, langweilt uns. Das einmal vergegenwärtigt und verstanden, ist der erste Schritt zur Genesung.

Die Dinge ändern sich im Kopf. „Man sieht hieraus auch, daß die wahre Erhabenheit nur im Gemüte des Urteilenden, nicht in dem Naturobjekte, dessen Beurteilung diese Stimmung desselben veranlaßt, müsse gesucht werden“, schreib Immanuel Kant. Er war kein Philosoph, der für sein Naturgefühl bekannt ist. Dennoch deckt sich seine Beobachtung mit meinen Erfahrungen. Das Schöne gehört zur Natur, aber damit unsere Umgebungen nicht nur schön sind, sondern zum Erhabenen erhoben werden, muss in unserem Kopf eine Verwandlung stattfinden, nicht in dem Objekt unserer Betrachtung. [zit. aus „Philosophie für Abenteurer“, S. 106, Erling Kagge]

Auch wenn ich in jüngeren Jahren anderer Ansicht war, heute weiß ich, der normale Zustand im Hirn ist Chaos. Ich habe lange gebraucht, um dies zu verstehen, und das liegt dran, dass die Tage oft vergehen, als würden sie von einem Autopiloten gesteuert. Ich schlafe, wache auf, checke mein Smartphone, dusche, frühstücke und gehe in den Verlag. [...] Aber hin und wieder, wenn ich aus dem gewohnten Trott ausbreche und still in einem Raum sitze, allein, ohne ein Ziel, ohne mir irgendetwas anzusehen, zeigt sich das Chaos. [...] Es fällt schwer, untätig zu bleiben [...]. Häufig entscheide ich mich dafür, etwas zu tun, statt die Stille mit mir selbst auszufüllen. [...] Nach und nach habe ich verstanden, dass die Ursache vieler meiner Probleme in diesem Kampf zu finden ist. [...] Der Philosoph und Theoretiker der Langeweile Blaise Pascal erklärte bereits im 17. Jahrhundert: „… alles Unglück der Menschen kommt davon her, daß sie nicht verstehn, sich ruhig in einer Stube zu halten.“ [zit. aus „Stille. Ein Wegweiser“, S. 43–44, Erling Kagge]danken chronicles in ten thousand steps from the great north 02

Danken: „Zwei ungeschriebene Regeln sollte man stets versuchen einzuhalten: Erstens: Sei freundlich. Zweitens: Hinterlasse eine Hütte, wie du sie vorgefunden hast. Das Einzige, was du hinterlassen musst, ist Dankbarkeit.“ 

Wie während der ersten Wanderung „Camminare nella natura“ hält unser Protagonist inne, sinniert, grübelt und schreibt seine Gedanken ins Tagebuch nieder. Beim Alleingehen langweilt sich Erling, er hat genug von all dieser omnipräsenten, wenig einladenden Natur, holt ein Buch hervor, beginnt zu lesen, um sich zu abzulenken, zu unterhalten, in Gedanken zu reisen. Beim Lesen der Worte von David Foster Wallace über die Langeweile in The Pale King überkommt es ihn. Langsam beginnt er das Wesen seiner Ungeduld beim Alleingehen zu verstehen und sieht die direkte Verbindung zu Pascal: Um den Wert des Alleinseins zu verstehen, muss er sich für sein Abenteuer zuerst von den anderen entfernen und befreien. Nach diesem Tagebucheintrag legt Erling auch das Buch von Wallace beiseite, lässt alle Stimmen hinter sich zurück, die er mit sich trug, ist endlich allein, bei sich, und froh und dankbar darüber, dies verstanden zu haben. 

Von allen Regeln, die ich mir im Laufe der Jahre als Abenteurer selbst auferlegt habe, gibt es zwei, die ich nach wie vor einzuhalten versuche. Erstens: Sei freundlich. Selbst auf einer Solo-Expedition bist du abhängig von dutzenden Helfern [...]. Freundlich zu sein ist das Vernünftigste, was du tun kannst, und wenn dein Leben möglicherweise von anderen Menschen abhängt, ist es dumm, sie nicht alle gut zu behandeln. Die andere ungeschriebene Regel ist eine, die in Norwegen in den Bergen und im Wald gilt: Du sollst einen Lagerplatz oder eine Hütte so hinterlassen, wie du sie vorgefunden hast, oder gar in einem noch besseren Zustand. Ich finde, das ist die beste Regel, die wir in Norwegen haben. Das einzige, was du hinterlassen musst, ist Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass du eine Pause machen konntest, und dafür, dass du unterwegs bist. [zit. aus „Philosophie für Abenteurer“, S. 170, Erling Kagge] 

„Die Seligkeit – das Gefühl eines Augenblicks der Freude und Dankbarkeit für das Geschenk, am Leben und bei Verstand zu sein – befindet sich auf der entgegengesetzten Seite der erdrückenden, erschlagenden Langweile. Studiere genau das Ermüdenste, was es gibt (Steuererklärung, Golf im Fernsehen), und eine Langeweile, wie du sie noch nie empfunden hast, wird über dich hinwegspülen und dir praktisch das Leben nehmen. Ertrag es …“, fügte er hinzu, „und es wird so sein, als würdest du nach Tagen in der Wüste endlich einen Schluck Wasser bekommen.“ Die Lösung liegt für Wallace darin, diesen Zustand zu akzeptieren und etwas damit anzufangen. In einem Milieu gut zu funktionieren, das alles ausschließt, was vital und menschlisch ist. [...] Als er (A.d.R.Wallace) ein kleiner Junge war und auf die Grundschule ging, erzählte er seiner Mutter von seinen großen Plänen: „Ich will ein brillantes Theaterstück schreiben, aber es fängt erst an, wenn alle Zuschauer bis auf einen das Theater verlassen haben, weil sie sich langweilen und mit dem Stück nichts anfangen können.“ [zit. aus „Stille. Ein Wegweiser“, S. 45–46, Erling Kagge]

reagieren chronicles in ten thousand steps from the great north 02

Reagieren: „Gehen kann ein Leben lang dauern. … manchmal geht man in eine Richtung und kehrt dann wieder zum Ausgangspunkt zurück.“

Erling beendet diese Etappe im Bewusstsein, wie wertvoll Einsamkeit und Stille sind. Er wird nicht mehr danach streben, in der Natur rundherum Halt zu suchen, sondern vielmehr versuchen, zu nehmen, was das Leben ihm bietet und Ruhe, und Öde und Abwesenheit von Lärm genießen. Erst wenn alle gegangen sind, kein Publikum mehr anwesend ist, kann die Show beginnen. Erst wenn alle Stimmen verstummt sind, wenn nichts aus Erlings Alltag in Oslo oder sonstwo auf der Welt zu ihm spricht, wenn sich nichts mehr regt, erst dann kann die Reise beginnen. Die Reise hin zu sich selbst, zum Alleinsein.

Graphic design by Paula Boldrin 

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