Music

April 5, 2020

Guess Who’s Coming To Dinner… Natty Seel.a

Florian Rabatscher

Keine Musik ertönt mehr von den Balkonen und auch das solidarische Klatschen ist verstummt. Hat uns jetzt allmählich der Optimismus verlassen? Oder sind wir einfach nur mehr genervt von dieser Gesamtsituation? Was es auch ist, eine Lösung für diese Misere kann ich beim besten Willen nicht anbieten, aber passende Musik könnte ich vorschlagen. Sage ich jetzt, Reggae wäre doch die perfekte Untermalung für diese besch…eidene Situation, würden viele denken: „Aha, ich weiß worauf er hinaus will …“
Er meint natürlich zur Aufmunterung, denn bei diesem karibischen Sound denkt man vielleicht an Dinge wie Sonnenschein, Palmen, Cocktails … oder sämtliche andere Belustigungen der touristischen Plastikwelt. (Genau die Dinge, die der dickbäuchige Vorzeigetourist, der seine Sandalen natürlich samt Socken trägt, so liebt.) … man hört den Song „Sunshine Reggae“ im Kopf und lässt seine Gedanken Richtung Urlaub schweifen.
All das meine ich natürlich nicht. Ich spreche von echtem Reggae (und nicht von den Klängen dieses Duos „Laid Back“, das zudem aus Dänemark stammt, deren Musik und Gedanken in etwa so viel mit Reggae gemeinsam haben wie ein Priester mit sexueller Aufklärung). Natürlich vermittelt Reggae auch positive Gefühle, aber noch mehr klingt er nach dem Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Er ist der Sound der Veränderung …

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Auch der Kalterer Ex-Olympia-Windsurfer Fabian Heidegger hat sich mittlerweile seit einigen Jahren dieser Lebensart zugewandt und viel verändert. Im Jahr 2013 beschloss er, sein Surfbrett an die Wand zu nageln und seine Sportkarriere in etwas Neues zu verwandeln: Rebel Music. Seitdem hat sich in seinem Leben zwar viel verändert, doch seine Dreadlocks wachsen unentwegt weiter und der Löwe in ihm ist nicht mehr zu bändigen.
Den Aufschrei seines inneren Tieres bringt er uns nun in Form von Seel.a und dem neuen Song „Better Must Come“. Naja, ganz neu ist dieser Titel nicht, geschrieben wurde er bereits vor sieben Jahren. Doch der derzeitige „Social Lockdown“ eignete sich perfekt für den Video-Release – wir haben Zeit und der Titel passt perfekt zur Situation, obwohl er nicht dafür geschrieben wurde – als ob er diesen Virus mit einem Voodoo-Zauber heraufbeschworen hätte … Ist das Coronavirus etwa die Rache der Natur an Babylon? Und Seel.a der Prediger der Rastafari-Apokalypse? (Ok, eine Welt, die im biblischen Ausmaß zu Grunde geht, und ein neues Volk, das aus der Asche emporsteigt, sei dahingestellt. Vor allem deshalb, weil sich mein religiöses Wissen allein auf das neuste Album „Jesus Is King“ von Kanye West beschränkt …) Doch da wir gerade beim Thema Natur sind, will ich euch eines mit absoluter Sicherheit sagen: Seel.a ist nicht bloß eine weitere Pseudo-Reggae-Hitmaschine!
Wer Fabian kennt, weiß, dass er diesen Spirit zu 100 % lebt und wiederspiegelt. So oft sah ich ihn schon allein, total unbeschwert, mit der Gitarre in der Hand, während er seine Gedanken hinausträllerte. Er ist nicht irgendein Neuzeit-Hippie, der nichts Besseres zu tun hat, bei ihm kommt das alles ganz natürlich. Hinter dieser Unbeschwertheit in seiner Musik stecken Schmerzen ganzer Völkergruppen, die er mit einer scheinbaren Leichtigkeit besingt. Ich empfehle jedem, der die Chance hat, nicht nur seine Musik zu hören, sondern sich auch einmal auf ein Gespräch mit ihm einzulassen – ihr werdet verstehen, was ich meine. Da sich das zurzeit aber als recht schwierig herausstellt, haben wir Südtirols Natty Dreadlocks angerufen und mit Fragen genervt. Für bessere Vibes empfehle ich euch während der folgenden Lektüre im Hintergrund den Sound von Black Uhuru laufen zu lassen. 

Guess Who’s Coming To Dinner, Natty Seel.a…

Erähl uns doch etwas über deinen neuen Künstlernamen …

Hat jetzt ziemlich lange gedauert … Den Namen habe ich schon länger im Hinterkopf, nur die Schreibweise war das Problem. Es gab schon diverse Facebook-Seiten damit und normal, wie er in der Bibel vorkommt, ging es auch nicht. Es gibt da nämlich schon irgendeine beschissene christliche Hardcore-Band, die diesen Namen trägt. [lacht] Es dauerte einfach, bis es passte, aber so geht es gut. Man spricht es immer noch gleich aus und der Sinn bleibt der gleiche für mich.

Der wäre?

Die Inspiration stammt von Psalmen in der Bibel, dort gibt es Passagen, wo am Ende des Absatzes „Selah“ steht. Das Wort steht immer alleine, wie Amen oder Hallelujah, nur dass dieses Wort im Speziellen bedeutet, dass du aufhören sollst zu lesen. Also Stop and Reflect. Genau das gefällt mir und genau das mache ich auch als Artist. Ich beobachte und versuche zu verstehen. Von diesem Standpunkt aus schreibe ich dann meine Lieder und deswegen habe ich mich mit diesem Wort identifiziert. seel.a2

Warum genau aber hast du deinen alten Namen „Myztic Lion“ abgelegt? 

Der Name „Myztic Lion“ entstand eigentlich ganz spontan, als ich mit der Musik anfing und noch jünger war. Damals hat es mich verkörpert, weil ich im Sternzeichen Löwe bin und „Myztic“ ein Wort ist, das im Reggae ziemlich oft vorkommt. Also habe ich sie miteinander kombiniert, aber sonst war keine größere Überlegung dahinter. Im Laufe der Jahre kam mir dann wiederholt vor, dass dieser Name nicht mehr zu mir passt. Oft fragten Leute, wieso nennst du dich so? Und ich wusste nie wirklich eine Antwort darauf. Ich suchte etwas Neues, was mich mehr repräsentieren kann …

Also kommt jetzt etwas völlig Neues auf uns zu?

Sagen wir, ja. Ich habe mich natürlich in den letzten sieben Jahren auch als Mensch verändert. Mittlerweile habe ich zwei Kinder usw. Myztic Lion ist wie eine alte Jacke, die mir einfach nicht mehr passt. Ich brauche neue Kleidung … Als Künstler hast du ja diese Freiheiten: Du kannst dich nennen, wie du willst, schreiben, was du willst, aussehen, wie du willst. Du bist frei zu tun, was und wann du willst, deswegen ist man ja Künstler. Ich zumindest …

Aber du bleibst dem Reggae trotzdem treu?

Hauptsächlich schon. Das Projekt hat im Reggae seine Wurzeln, weil ich ihn auch als Mensch komplett lebe. Ich und Reggae sind wie ein Ehepaar, so einfach trennt sich das nicht. Aber trotzdem arbeite ich ja mit verschiedenen Musikern zusammen, die auch ihre Einflüsse reinbringen. Ich entschied mich bewusst dazu, nicht alles zu blocken, was nicht ins Genre passt. Sonst macht es den Leuten, mit denen ich zusammenarbeite, auch keinen Spaß mehr. Würde ich nur nach meinem Geschmack gehen, würde ich den pursten Reggae machen: Drum & Bass, Piano, eine Gitarre im Offbeat und Basta. Niemand soll aber ausgegrenzt werden, denn wir machen das als Team. Jeder soll also Spaß haben und sich nicht so fühlen, als ob er es für mich machen würde. Ich lasse jeden Einfluss zu, aber trotzdem ist es noch Reggae. Jeder Mensch, der hier mitwirkt, ist im Song auch vorhanden. Es hat auch keinen Sinn so zu sein wie die Jamaikaner, denn wir sind das nicht. Sie wachsen ja schon mit diesem Sound auf und spielen deswegen auch so. Es ist ihr nationaler Sound. Unsere Leute haben andere Einflüsse, weswegen es keinen Sinn macht etwas zu kopieren, was sowieso schon existiert. Die Jamaikaner machen es besser und so werden wir nie spielen. Unser Stil ist einfach unserer und jeder soll sich wohl fühlen.seel.a3

Um das Corona-Virus handelt es sich ja nicht bei „Better Must Come“. Worum geht es?

Der Urprung dieses Songs kommt aus der Zeit, wo ich noch im Flüchtlingsheim gearbeitet habe. Nachts, als ich meinen Turnus hatte, war es dort oft nachts so, dass du als Sozialarbeiter zwischen acht Uhr und Mitternacht nichts mehr am Computer arbeiten oder Essen ausgeben konntest, sondern vielmehr soziale Fähigkeiten an den Tag legen musstest. Als Musiker war für mich das Verbindende zwischen mir und den Leuten der Sound. Das funktionierte gut, denn sobald du auf der Gitarre etwas spielst, bist du auf Augenhöhe mit allen, egal woher jemand kommt. Deswegen haben wir nachts bei den Containern, wo sie schliefen, oder auch im Büro (was meine Bosse natürlich nicht wissen durften) oft zusammen gejammt. In diesen Momenten kamen oft Diskussionen zustande, da die Leute anfingen, von sich zu erzählen. Herkunft, weshalb sie hier sind usw. Daraus habe ich versucht, ein Lied zu machen – übrigens das erste von mir, das diesen Migrationshintergrund anspricht. Es werden weitere folgen …Hier versuche ich jedenfalls irgendwie auszudrücken, wie sich diese Leute fühlen, und beschreibe in den Strophen die zwei größten Gründe, warum sie auswandern. In der ersten geht es um Krieg, da immer mehr junge Leute auf der Straße versuchen, zu überleben. In der zweiten geht es um die Elite der Reichen, die nicht ihren Reichtum teilen wollen, weswegen viele in Armut leben und irgendwo anders hin auswandern, in der Hoffnung, dass es dort besser ist. Also sind die Hauptgründe entweder Krieg, Armut oder ökonomische. Es kommt natürlich darauf an, woher jemand kommt. Beispielsweise gibt es in Ghana oder Nigeria eine ganz kleine extrem reiche Elite, doch die Masse lebt in totaler Armut. Diese Themen packte ich in die einzelnen Strophen rein und im Chorus drücke ich aus, wie sich die Menschen fühlen. Denn in dieser Situation beten sie zu Gott: Bitte, Gott, hilf uns, etwas Besseres muss kommen, denn so geht es nicht weiter. Diesen Gedanken teilte eigentlich jeder einzelne im Flüchtlingscamp. So entstand der Song also, durch ihre Erzählungen und die Jam Sessions in diesem Camp. 

In deiner Musik geht es ja nicht nur um deine Message, du greifst auch soziale Themen auf, um aufzuklären …

Ja, genau, denn fast alle Lieder, die ich schreibe, behandeln die Geschichte von jemand anderem. Jedes Mal, wenn ich solche Geschichten höre, denke ich, wie krass diese Situation sein muss. Ich spüre, wie sich jemand dabei fühlt … Da fällt es mir leichter, so etwas zu beschreiben oder auch jemand anderem das zu erzählen. Der Grund, warum man so ein Lied schreibt, ist auch, dass man es so mehreren Leuten erzählen kann und nicht nur einem einzigen Menschen.

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Also dient dir Musik nicht bloß zur reinen Unterhaltung?

Genau das repräsentiert mich auch und diese Art Musik zu machen hat natürlich ihre Wurzeln im Rastafari-Lifestyle, der mich schon vor Jahren in seinen Bann gezogen hat. Durch die Messages von Reggae-Musik bin ich überhaupt erst auf fast alles, was ich denke, gekommen. Es hat mich dermaßen in meinem Leben beeinflusst, auch da 99 % der Reggae-Musiker Musik machen, weil sie etwas verändern wollen. Sie sehen Musik als Waffe, wie eine Zeitung oder irgendein anders Medium, einen Kanal, um an die Leute ran zu kommen. Nicht nur in den Kopf, sondern auch ins Herz. Genau das möchte ich auch …

… bei dir hat es ja geklappt …

Vollkommen. Ich bin auch jeden Tag dankbar, dass ich diesen Sound gefunden habe. Ohne ihn könnte ich mir kein Leben mehr vorstellen. Es ist Lifestyle, Philosophie und eine Art spirituelle Richtlinie. 

Reggae nimmt man derzeit eher als reine Partymusik wahr. Bringst du ihn wieder zum Ursprung?

Die Zeiten haben sich natürlich gerändert. Reggae entstand ja schon in den 50er-Jahren und hat sich dann langsam entwickelt. Ein Problem der heutigen Reggaebewegung sind diese „sinnlosen“ Songs, die eigentlich nie Teil davon waren. Der Slogan ist „One Love. One Heart“ und das wird immer so sein. Jeder Mensch, der heute Reggae hört, assoziiert ihn fast immer mit Bob Marley und diesem Slogan. Das muss man auch respektieren. Reggae ist nicht irgendwas, das du in einem Geschäft kaufen kannst. Wenn du also Reggae machst, musst du verstehen: Er gehört dir nicht. Du machst ihn, also solltest du auch respektieren, woher er kommt und was für einen Nutzen er über die Zeit hatte – nämlich immer den Leuten die Augen zu öffnen, gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen, gegen die Kolonialmächte, den Imperialismus, gegen Ausbeutung und einfach alles, was man als negativ einstufen würde. Wenn du also ein Reggae-Artist bist und das nicht respektierst, dann darfst du dich nicht als solcher bezeichnen. Vor allem wenn du Dreadlocks auf dem Kopf hast. Sie repräsentieren ja auch etwas und man trägt sie nicht aus Fashion-Gründen. Das sollte schon beibehalten werden, ansonsten verkaufst du dich.

Also überhaupt keine stylischen Gründe?

Im Gegenteil sogar, ich fühle mich eher manchmal unter Druck, da mein Umfeld immer fordert: Jetzt schneid doch mal diese Haare ab … Sind die nicht lästig? Oft fühle ich mich einfach unverstanden, weil sie nicht verstehen, dass das nicht nur Haare sind, die man einfach abschneidet, wenn man keine Lust mehr darauf hat. Es ist aber nicht nur das, es ist mehr ein Glaube oder eine ganze Identität und nicht etwas, das du einfach abschneidest, weil es nicht mehr schön ist. Mir ist auch wichtig, dass diese Message nach außen kommt: Seel.a glaubt an gewisse Sachen, mit denen du auch nicht unbedingt einverstanden sein musst, aber ich stehe zu 100 % dazu. 

Fotos: Seel.a 

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