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October 24, 2019

Ein Fotoalbum ohne Fotos: „Seiltänzer und Zaungäste“ von Jörg Zemmler

Florian Rabatscher

Das neue Buch von Jörg Zemmler ist im franz-Hauptquartier eingetrudelt und ich habe es mir gleich unter den Nagel gerissen. Wer jetzt nichts mit diesem Namen anfangen kann, dem sei gesagt, er gehört sicher nicht zu einem üblichen Autor. Zemmler verbirgt sich oft auch hinter Filmen, Musikprojekten, ungewöhnlichen Klängen, Installationen, der Sendung „Forum Literatur“ beim Sender Rai Südtirol und vielem mehr. Halten wir einfach fest: ein beeindruckender und vielseitiger Typ Mensch. Ihn in einem einzigen Satz zu beschreiben, stellt sich als unlösbar heraus. Auch die Biografie auf seiner Webseite zu lesen ist schier unmöglich, da sie sich scheinbar ins Unendliche zieht. Die Kurzversion: 

Jörg Zemmler, geboren 1975 in Bozen, lebt in Wien und in Südtirol. Studium der Politikwissenschaften sowie Ausbildung zum Tontechniker. Letztes musikalisches Projekt: Das Album „Airplay“ (2018). Letzte Bücher: „Leihworte (und -töne)“ (2004) und „papierflieger luft“ (2015).

Die Sonntagszeitung „Zett“ nannte ihn übrigens einmal „Akrobat der Worte“. Und wenn die das sagen, muss doch etwas Wahres dran sein, denn auch sie sind bekannt für … viele Worte. Ich verbinde den Namen Jörg Zemmler jedenfalls mit einer gewissen Eigentümlichkeit, aber auf eine gute Art und Weise. Auch sein neuestes Werk ist äußerst eigen, das Konzept jedenfalls ist alles andere als üblich. Das Buch nennt sich „Seiltänzer und Zaungäste“ (Klever Verlag), hat 224 Seiten und sage und schreibe 114 Kapitel. Um Himmelswillen! Wie das funktioniert? Kapitel ist vielleicht das falsche Wort, es befinden sich 114 Protagonisten darin, denen man nur kurz begegnet. Es ist so, als ob man in ein Fotoalbum ohne Fotos blicken würde. Geschriebene Bilder von gewöhnlichen Leuten, die man gar nicht kennt. Lyrische Schnappschüsse, die einen aber oft mehr erzählen als ganze Lebensläufe. Klingt alles ein klein wenig verrückt, aber seht dieses Buch wie ein Schweizer Taschenmesser, das man auf verschiedenste Weise verwenden könnte. Hier ein paar Anregungen:joerg zemmler

Wer kennt das nicht? Man sitzt allein irgendwo in der Stadt, während die verschiedensten Leute an einem vorbeiziehen. Da man ja manchmal nichts Besseres zu tun hat, fragt man sich, was diese wohl in ihrem Leben so machen. Woher sie kommen oder wohin sie gehen, welche Ängste oder Ticks sie haben, ob sie verheiratet oder allein sind oder ob sie vielleicht gerade vor irgendeiner Entscheidung stehen. Mit diesem Buch könnt ihr endlich einmal den schlummernden Stalker in euch wecken, ohne euch dafür schämen zu müssen. Oder Romanautoren könnten eine der Geschichten als Plot für eines ihrer zukünftigen Bücher verwenden. Von manchen der Personen möchte man wirklich mehr erfahren, sodass es einen fast schon in den Fingern juckt, ihre Entwicklung weiterzuführen. Oder seid ihr vielleicht paranormal veranlagt? Dann könntet ihr doch mittels Gedankenkraft ins Buch eintauchen, worauf ihr euch in einem Dorf mit 114 Einwohnern wiederfindet, denen ihr allen kurz begegnen könnt. Keine langen und mühseligen Gespräche, nur flüchtige Bekanntschaften. Ok, paranormal? Vielleicht ein bisschen zu abgefahren. Natürlich könnt ihr es auch auf die herkömmliche Weise lesen und euch vielleicht in einer der Figuren wiederfinden. Oder sogar unter euren Namen. – Florian aus dem Buch und ich haben schon mal eines gemeinsam: Wir mögen es beide nicht, den Abwasch zu machen. Oder wer sich noch unsicher über den Namen seines Babys ist, könnte in diesem Buch doch fündig werden.

Egal, wie ihr es verwenden möchtet, das Buch und seine Geschichten lassen vieles offen. Meine Anregungen sollen euch also nicht verunsichern, fühlt euch frei, es zu lesen, wie ihr wollt. Was ist es aber jetzt genau oder was steckt dahinter? Ich habe keinen blassen Schimmer. Aber ich denke, genau darum geht’s. Es lebt von der Erwartung, dass etwas geschieht. Wie die Musik bei Horrorfilmen, die ständig Spannung aufbaut, obwohl gar nichts passiert. Natürlich hätte man den Autor fragen können, aber ist es nicht viel besser darüber nachzudenken? Das Einzige, das mich schlussendlich doch noch interessieren würde, wäre: Warum gibt es keinen Jörg im Buch?  

Die Buchvorstellung findet heute, 24. Oktober, um 19:00 H im Frei.Raum/Südtiroler Künstlerbund statt.

Fotos: (1) Franziska Unterholzner; (2) Jörg Zemmler

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