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July 8, 2019

Die Geschichten der Glücklichen kann ich nicht schreiben. Schriftstellerin Tanja Raich

Verena Spechtenhauser

Die Meranerin Tanja Raich, Jahrgang 1986, ist Programmleiterin eines Verlages, Schriftstellerin und Herausgeberin. Im März dieses Jahres hat sie ihren ersten Roman Jesolo veröffentlicht und damit unter LiteraturkritikerInnen und Publikum gleichsam für positive Reaktionen gesorgt – mit einem Thema, das alles andere als einfach ist. Wie sie mit dem Erfolg umgeht, woran sie aktuell arbeitet und wie sie die Südtiroler Literatur- und Verlagsszene wahrnimmt, erzählt Tanja Raich uns im Interview.

Mit deinem Debütroman Jesolo hast du eindeutig einen Nerv der Zeit getroffen. Du brichst im Buch mit dem Klischee der überglücklichen Schwangeren. War dir das beim Schreiben des Buches bewusst?

Beim Schreiben denke ich nicht daran, ob ich einen „Nerv der Zeit“ treffen werde. Es beginnt mit einem ersten Satz. Dann ist die Atmosphäre da, die Figuren, das Thema. Natürlich erzähle ich da nicht unbedingt von den schönen Dingen, sondern von den Dingen, die im Argen liegen, von Abgründen, von Ängsten, von Konflikten. Das ist auch mein Anspruch an Literatur. Die Geschichten der Glücklichen gibt es ja auch, nur kann ich sie nicht schreiben. 

Ich muss ehrlich zugeben, beim Lesen kam bei mir keine wirkliche Sympathie für die Protagonistin auf. Immer wieder ertappte ich mich beim Gedanken, dass Andrea einfach zu bequem ist und endlich selbst ihr Leben in die Hand nehmen sollte …

Figuren müssen auch nicht sympathisch sein. Aber wenn sie Emotionen auslösen, ist das ein gutes Zeichen. Dann hat die Selbstreflexion schon begonnen. Ich wollte keine klassische Ausbruchsgeschichte erzählen, sondern das, was passiert, wenn man bleibt, wenn man weitergeht, wenn man jeden Kompromiss eingeht, um den Erwartungen des Partners, der Familie und der Gesellschaft gerecht zu werden. Ich denke, das ist auch die Geschichte, die selten erzählt wird, der Ausbruch wäre erzählerisch sicher die einfachere und gefälligere Lösung, aber ich denke nicht, dass ich dann sehr viel Neues erfahren hätte. 

In einem Interview sagst du: „Frauen meiner Generation führen ein freies und unabhängiges Leben, bis sie schwanger werden. Dann werden sie von der Gesellschaft wieder in ein traditionelles Rollenbild gedrängt.“ Warum ist das so? 

Ich denke, dass sich mit der Schwangerschaft einfach vieles zuspitzt. Und wir unsere Gesellschaft viel fortschrittlicher und gleichberechtigter sehen wollen, als sie tatsächlich ist. Eine annähernde 50/50-Verteilung ist im Moment hauptsächlich privilegierten Familien vorbehalten, die sich Tagesmütter und Haushaltshilfen leisten können. Die Realität ist eine andere. Väterkarenz ist immer noch die Ausnahme von der Regel, auch weil es in vielen Firmen nicht möglich ist. Es gibt zu wenig Kinderbetreuungsplätze. Die Öffnungszeiten von Kindergärten & Co. lassen sich kaum mit einem Job vereinbaren. Da müsste die Politik gegensteuern, da müssten auch die Unternehmen ein Zeichen setzen, aber irgendwie verlassen sich alle darauf, dass Familie funktioniert wie eh und je und kein Handlungsbedarf besteht. 

Du sagst auch, du hast das Gefühl, in der heutigen Zeit nur als „richtige“ Frau gesehen zu werden, wenn du Kinder in die Welt setzt. Eine gewagte Aussage …

So gewagt finde ich das gar nicht. Ab einem bestimmten Alter kreist alles nur mehr um dieses Thema. Kinderlosigkeit wird noch immer eher als Fehlentscheidung, Egoismus oder Mangel gesehen. Sheila Heti hat sich in ihrem jüngsten Buch „Mutterschaft“ auch sehr ausführlich damit auseinandergesetzt und sie sagt da ganz treffend, dass ein Kind zu haben oder kinderlos zu sein, kein Vor- oder Nachteil ist, es ist einfach ein anderes Leben, eine Entscheidung, die man trifft. Keine hat mehr oder weniger. 

Tanja Raich_Sofie Knijff

Im Moment schreibst du an deinem zweiten Roman mit dem Arbeitstitel InselfestungIn dessen Rahmen warst du auf Schreibaufenthalt in Sri Lanka. Kannst du mehr darüber erzählen und uns vielleicht auch schon etwas zum Inhalt deines neuen Buches sagen?

Im Jänner und Februar durfte ich in einem wunderschönen Apartment der one world foundation in Ahungalla arbeiten. Die Stiftung wurde von Kathrin Messner und Joseph Ortner als Friedensprojekt gegründet, als Ort der Bildung, Inspiration und des interkulturellen Austauschs. Mit den Einnahmen des Ayurveda Resorts wird eine Schule mit über 1.000 SchülerInnen finanziert. Abwechselnd werden KünstlerInnen und SchriftstellerInnen als Artist in Residence eingeladen. Dort zu arbeiten war mit Sicherheit eine der schönsten Erfahrungen. Das Areal ist eine Oase. Man kommt zur Ruhe und findet wieder Raum für neue Gedanken. Ich habe dort hauptsächlich an meinem nächsten Roman geschrieben, der auf einer tropischen Insel spielt. Landschaft und Tierwelt sind inspiriert von meinen Reisen in Indien und Sri Lanka. Allerdings ist es auch dieses Mal nicht die Schönheit, die mich beschäftigt, sondern der Abgrund, die Vergänglichkeit, der Untergang. Eines Tages färben sich die Blätter der Bäume schwarz und zerbröseln zwischen den Fingern. Im Roman beschäftige ich mich mit Sicherheit und Angst, Macht und Ohnmacht, es ist ein Spiel mit der Wirklichkeit, mit der Erinnerung, mit der Zeit, ein Ausloten von Grenzen, die Suche nach dem Fremden, das nicht draußen zu suchen ist, sondern vielmehr festsitzt in uns und ausbricht, sobald die Angst Überhand nimmt.

„Jesolo“ war ein sehr erfolgreiches Debüt, das von der Kritik gut aufgenommen wurde. Machst du dir Gedanken, ob dein zweiter Roman daran anknüpfen kann?

Nein. Erfolg ist so ein konstruierter Buchmarktbegriff. Das, was wirklich zählt, ist die Begegnung mit dem oder der LeserIn im Moment des Lesens und ob mein Buch etwas auslösen kann, etwas bewegt, in Gang setzt. Darauf hoffe ich. Und dass „Jesolo“-LeserInnen auch die Reise auf die tropische Insel wagen, schließlich ist es nicht nur geografisch, sondern auch thematisch eine ganz andere Baustelle. 

Im März war in der ZEIT dein sehr berührender Artikel Wir steigen hoch über deinen Großvater zu lesen, welcher im Dezember verstorben ist. Wie war es für dich, einen so persönlichen Text zu veröffentlichen?

Das war das erste Mal, dass ich einen autobiografischen Text geschrieben habe. Es ist ein anderes Schreiben zum einen: Man ist der Wirklichkeit verpflichtet, aber auf einer anderen Ebene wie im fiktiven Schreiben. Die Reaktionen waren für mich und meine Familie überwältigend. So viele Menschen haben diesen Text gelesen, so vielen Menschen konnte ich von meinem Großvater erzählen. Viele haben sich an ihren eigenen Großvater oder an ihre Großmutter erinnert und mir geschrieben, dass sie geweint haben, als sie den Text gelesen haben. Das hat mir einmal mehr gezeigt, was Literatur schaffen kann, und wie man sich doch auf einer sehr intimen Ebene begegnen und Erinnerungen freisetzen kann, die nichts mehr mit meiner Geschichte zu tun haben. 

Du hast in der heurigen Ausgabe der Literaturzeitschrift „Lichtungen“ den Südtirol-Schwerpunkt „Sprache. Grenzen. Literatur aus Südtirol“ herausgegeben. Was hast du bei der Recherche neu entdeckt, wen wiederentdeckt, was ist dir aufgefallen (positiv oder negativ), was hat dich erstaunt? Kannst du uns ein Fazit geben.

Ich habe Texte ausgewählt, die unkonventionelle Erzählweisen suchen, spielerisch mit Sprache umgehen. Ich war erstaunt, berührt und auch immer wieder überrascht, wie originell, wie klangvoll und frisch die Texte aus Südtirol sind. Neu entdeckt habe ich Gentiana Minga, deren Gedichte nun erstmals auf Deutsch vorliegen, die ich sehr ans Herz legen kann. Auch Maria Oberrauch ist mit ihrer Kurzprosa eine wahre Entdeckung. Maria E. Brunner habe ich für diese Ausgabe wiederentdeckt. Alle drei lesen am 28. September 2019 um 10:00 Uhr in der Teßmann in Bozen. 

Neben dem Schreiben leitest du das Literaturprogramm des österreichischen Verlages Kremayr und Scheriau. Du kennst also durchaus auch die Schwierigkeiten der Literaturbranche, weißt, was sich gut verkauft und was nicht. Begleitet dich dieses Wissen beim Schreiben deiner Bücher?

Jein. Beim Schreiben nicht. Da zählt nur der Text, die Geschichte. Ich kann nicht mit diesem Denken an die Sache herangehen. Dann würde ich keine Literatur mehr schreiben, sondern Gebrauchstexte. Texte also, die der Buchmarkt gebrauchen kann. Und so geht es mir auch beim Programm-Machen. Ich kann nur Texte verlegen, die mich treffen, berühren, die etwas in mir auslösen, bewegen. Dann kann ich für die Sache eintreten und mir nachher überlegen, wie ich den Text verpacke, damit er für den Buchmarkt zu gebrauchen ist. 

Verfolgst du die Südtiroler Verlagsszene?

Ja, so viel halt überschwappt bis nach Wien. Vor allem die Neuerscheinungen von Edition Raetia und Folio habe ich im Blick, die ein mutiges Programm machen und schon immer wichtige Bücher veröffentlicht haben, die einen Diskurs zur (Südtiroler) Literatur und Geschichtsschreibung lebendig halten sowie Mehrsprachigkeit und Übersetzungen aus dem Italienischen im Blick haben. 

Und die letzte Frage: Welche Bücher liegen gerade auf deinem Nachttisch?

Mehrere, da ich oft parallel lese oder mich doch nochmal für ein anderes Buch entscheide: „brütt oder Die seufzenden Gärten“ von Friederike Mayröcker, „Pfeil der Zeit“ von Martin Amis und „Schönheit der Tiere“ von Christiane Nüsslein-Volhard. 

Fotos: (1) Kurt Fleisch; (2) Sofie Knijff

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