Culture + Arts > Architecture

February 14, 2019

Das fehlende Puzzleteil: Mies van der Rohe und das “Mountain House” in Oberbozen

Verena Spechtenhauser

Wie viel Überraschendes kann uns die Südtiroler Architekturgeschichte noch bescheren? Als junger Architekturforscher zum Thema “Hotelbau in den Alpen” stieß der gebürtige Meraner Architekt und Dozent an der Züricher ETH Ivan Bocchio im Sommer 2014 zufällig auf unterschiedliche Artikel, die behaupteten, die Architekturlegende Ludwig Mies van der Rohe hätte in Südtirol einige Skizzen zu einem Berghaus entworfen. Was auf den ersten Blick als eher unwahrscheinlich galt, entpuppte sich nach einer intensiven Recherche im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) als Realität. Nun hat Ivan Bocchio im Buch “Mies van der Rohe. Zwischen Südtirol und New York”, erschienen bei Edition Raetia, seine spannenden Forschungsergebnisse veröffentlicht.

Ivan, wie war es für dich als Meraner bei deinen Forschungen auf einen Südtirol-Bezug von Mies van der Rohe zu stoßen?

Ich muss selbst eingestehen, dass ich zuerst dachte, es muss sich hier um einen Fehler handeln. Ich glaube, dass ich etwas durcheinander war, denn zu diesem Zeitpunkt war ich felsenfest davon überzeugt, die Baukultur unseres Landes bestens zu kennen. Ich habe in Bozen die Geometerschule besucht, in Innsbruck das Architekturstudium abgeschlossen und war in Meran einige Jahre als Architekt tätig – und dann kommen irgendwelche Amerikaner daher und behaupten, Mies van der Rohe hätte in den 1930ern für Südtirol ein Haus entwickelt. Mein Forschergeist war geweckt! Ich wollte unbedingt mehr über dieses Berghaus, seine Entstehung und genaue Verortung herausfinden. Verstehen wollte ich auch, wie Mies van der Rohe genau auf Südtirol kam. War es nur ein beliebiger Urlaubsort? Oder gab es einen Auftraggeber? Nach der Recherche zwischen unzähligen Kartons und Dossiers im Museum of Modern Art (MoMA) in New York konnten somit einige Fragen beantwortet werden.

Mies van der Rohe_farbfabrik

Was genau ist das Besondere an den “Mountain House Studies”?

Das von Mies van der Rohe entwickelte “Mountain House” in Oberbozen erscheint als das fehlende Puzzleteil zum Entwurf eines der bekanntesten Wohnhäuser der Welt, nämlich das “Farnsworth House” in Chicago. Für Mies sind es in Südtirol die ersten Versuche, ein Gebäude vom Erdboden völlig abzuheben und den Eindruck des Schwebens zu vermitteln. Zwei unterschiedliche Varianten konzipierte Mies für dieses Projekt in den Südtiroler Alpen. Bemerkenswert bei den zwei Varianten, die Mies für das Mountain House entwickelte, ist der Höhensprung zum gewachsenen Terrain: Das Bauwerk distanziert sich mehr und mehr vom Ort und hebt sich ab. Dies erfolgt zum einen bei der ersten Variante mit der Positionierung des Anwesens am Geländesprung und zum anderen bei der zweiten Variante durch die Hochsetzung des Hauses auf Pilastern. Bei einem nachfolgenden Projekt, dem “Resor House” in Wyoming USA, das Mies ab 1937 ausgearbeitet hat, setzte er das Haus ebenfalls etwas höher vom Gelände an. Ein ähnlich konsequentes System, das Haus vom Boden durch eine Stahlstruktur abzuheben, wandte Mies van der Rohe in einem später realisierten Projekt an: beim weltbekannten “Farnsworth House” in Illinois aus dem Jahr 1951. Deshalb verwundert es kaum, dass sich Mies van der Rohe 1947 bei seiner Einzelausstellung im MoMA von der versammelten Weltpresse zwischen dem Farnsworth-Modell und dem riesigen Druck des “Mountain Houses” ablichten hat lassen. 

Mies van der Rohe_farbfabrik

Wann war dir klar, dass deine Entdeckung genug Stoff für ein ganzes Buchprojekt birgt?

Im Sommer 2014 entschied ich mich, der Spur zu folgen und flog nach New York. Dort vertiefte ich mich in den Nachlass von Mies, der im Museum of Modern Art (MoMA) verwahrt wird. In New York wurde mir erst das Potential klar, als ich mit meinen Entdeckungen die Reaktion der Verantwortlichen des Forschungszentrums am Museum of Modern Art bemerkte. Im MoMA realisierte ich, dass diese Entdeckung für Mies’ Leben und Schaffen von großer Bedeutung sein könnte.

Neben neuen Einblicken in die Südtiroler Architekturgeschichte bietet das Buch noch einen weiteren spannenden Nebeneffekt, nämlich die Geschichte der Bozner Familie Riehl …

Geradewegs kann behauptet werden, dass der aus Bozen stammende Philosophieprofessor Alois Riehl (1844–1924) derjenige gewesen ist, der den Grundstein für die Karriere von Ludwig Mies als einem der berühmtesten Architekten des 20. Jahrhunderts gelegt hat. Durch die Riehls kam Mies schnell in Kontakt mit einem illustren Kreis aufstrebender Intellektueller, Künstler, Schriftsteller, Politiker und Industrieller. Zudem war gerade sein erster Auftraggeber Alois Riehl derjenige, der durch seine Philosophie Mies’ Anspruch zur Verbindung der klassischen Architektur mit der neuen förderte. Wie das Kapitel “Fortschrittlicher Konservativismus – Was Mies und Alois Riehl verbindet” dargelegt, nimmt Mies im Vergleich zu den europäischen Avantgardisten eine moderate Haltung ein, die nach einem Ausgleich zwischen Tradition und Moderne sucht. Alois Riehl war Ziehvater und Mentor von Mies. 

 Ivan Bocchio

Inwiefern wurde Mies van der Rohe von seinem Förderer Alois Riehl beeinflusst?

Der aus Bozen stammende Professor Alois Riehl war nicht nur ein klassisch gebildeter, sondern auch mit den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft bestens vertrauter Mann. Er kannte die Kunst und Architektur der Renaissance genauso gut wie die moderne Theorie des Raumes, die August Schmarsow in “Das Wesen der architektonischen Schöpfung” dargelegt hatte. Bereits lange vor seiner Bekanntschaft mit Mies dürfte Riehl sich wenigstens theoretisch mit Bauthemen befasst haben. Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass dies eine gewisse Faszination auf ihn ausgeübt zu haben schien, denn in seinen Schriften nahm er immer wieder bildhaft Bezug zur Architektur. Etwa wenn er in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche schreibt: “Nietzsches Philosophie in Aphorismen gleicht einem Bau, dessen einzelne Werkstücke nie anders als im Geiste des Baumeisters zum Ganzen gefügt waren und dessen Plan überdies eine wiederholte Umbildung erfahren hat.” Nietzsche wurde bei Riehl wiederholt zum Gegenstand architektonischer Gleichnisse. An anderen Texten schien es, als formuliere Riehl eine persönliche Idealarchitektur, die bereits wesentliche Merkmale seines eigenen Hauses vorwegnimmt. Der Mann wusste genau, was er wollte, als er den jungen Mies beauftragte. Er könnte mehr als bisher angenommen auf den Entwurf seines Hauses Einfluss genommen haben und zudem Mies in einer tiefsinnigeren Philosophie des Bauens geführt haben. 

Gibt es Anzeichen in den späteren Werken van der Rohes, die auf seinen Aufenthalt in Südtirol zurückzuführen sind?

An Mies Projekt in Oberbozen lassen sich sowohl Parallelen zu den fast zehn Jahren zuvor entwickelten Landhäusern als auch zum sogenannten “Farnsworth House” anschaulich illustrieren. Das “Mountain House” kann somit als Bindeglied zwischen den von 1923 bis 1924 entwickelten Landhäusern in Eisenbeton beziehungsweise Backstein, dem nicht realisierten “Resor House” in Wyoming USA und dem 1951 realisierten “Farnsworth House” in Illinois betrachtet werden. Mit dem “Farnsworth House”, eines der bedeutendsten Wohnhäuser der Architekturgeschichte, fand die Entwicklung Mies van der Rohes ihren Abschluss, die von einem Ziel gelenkt war: Mensch, Haus und Natur in Beziehung zu bringen. Und dazu haben die unterschiedlichen Studien zum “Mountain House” in den Südtiroler Bergen und die verbrachte Zeit auf dem Ritten wesentlich beigetragen. 

Mies van der Rohe_farbfabrik

Less is more, dieser Ausspruch ist charakteristisch für die Architektur Mies van der Rohes. Was begeistert dich an seiner Architektur am meisten?

Sein geradliniger Sinn für das Materialgerechte, die Ausschaltung aller modischen Strömungen, die Reduzierung der Gestaltung auf das Wesentliche im Zusammenspiel mit einem klaren Blick für gute Proportionierung führten zu jener schlichten Schönheit, die ich in seinen Bauten, Möbeln und Details bewundere. 

Gibt es für die Zukunft noch weitere interessante Architekturfundstücke in Südtirol zu entdecken?

Ich bin fest davon überzeugt, dass noch einiges über Mies und Südtirol ans Licht kommen wird. Warten wir noch kurz ab, mein nächstes Forschungsziel ist die private Korrespondenzsammlung und Fotos von Mies in den USA. Aber vielleicht gibt es weitere Archive zu durchstöbern.

Fotos: (1), (4) Ivan Bocchio/Edition Raetia; (2), (3), (5) farbfabrik.it

Print

Like + Share

Comments

Current day month ye@r *

Discussion+

There is one comment for this article.