Music

December 6, 2018

„Free Jazz is a lot more room to be yourself“ – Jaimie Branch

Simon Stampfer

„Du spielst Jazz?”, denk’ ich mir, während eine Sonnenbrille mit Basecap und Jogginghose nicht joggend auf mich zukommt. Vielleicht hat tatsächlich nicht jeder Künstler den Anschein eines Paradiesvogels, aber nach zehn Stunden Flug und Fahrt wird wohl jeder vom Frack zum Wrack.
Wer glaubt, Free Jazz sei eine zeitgenössische Kunst, wo Trompete und Schlagzeug nicht nur metaphorisch, sondern auch physisch aufeinandertreffen, trifft es, wie dieses Gleichnis, nicht auf dem Punkt. Eine solche Vermutung ist in Anbetracht vieler Musiker dieses Genres zwar nachvollziehbar, allerdings dürfte es nach dem Quartett der US-amerikanischen Trompeterin wohl niemand mehr behaupten.
Ist das Kunst? Es ist frei, abstrakt, ästhetisch und zwecklos; demnach sogar dessen Inbegriff. Doch wie so oft in der Moderne ist das Werk erst verständlich, kennt man auch den Schöpfer.

Vor ihrem Konzert in der Carambolage in Bozen am 12. November 2018 treffe ich Jaimie Branch zu einem Plausch.

Jaimie Branch, was ist Free Jazz und wie würdest du es jemanden erklären, der sich nicht mit Musik beschäftigt?

Was Free Jazz ist? Das ist eine komplizierte Frage. Nun ja, ich glaube, die einfachste Art es zu beschreiben, ist Jazz ohne den traditionellen Einschränkungen, seien sie harmonische, rhythmische oder strukturelle. Jedoch ist es ein sehr offener Begriff: Viele bezeichnen etwas als Free Jazz, das ich nicht so nennen würde. Ich bin nicht so auf Begriffe fixiert. Mir ist es egal, wie es die Leute nennen.

Der Titel deines neuen Free-Jazz-Albums „Fly or Die” klingt doch sehr aggressiv. Du sagtest einst: „We either gonna fly together or gonna die apart”. Was bedeutet dieser Satz?

Ich denke, es steckt viel Wahrheit in diesem Satz, insbesondere in Gesellschaft und Humanität der heutigen Zeit, wo wir Aufschwünge rechter Flügel auf der ganzen Welt beobachten können. Was sie versuchen, ist uns voneinander zu trennen, deshalb denke ich benötigen wir mehr Beziehungen. „Fly or Die” ist ein Riff auf einer amerikanischen Redewendung, nämlich „Ride or Die”, so nennt man seine Motorradkumpels. Aber für mich ist es auch ein spirituelles Ethos, ob wir steigen oder fallen. Es ist eine Entscheidung, was du machen willst. Viele Menschen sind zufrieden, unten zu bleiben. Ich bin an anderem interessiert.

Manchmal, wenn du mit der Band auftrittst, fühlt man einen räumlichen Klang, der im Moment entsteht. Wie viel von deinem Programm ist komponiert? Wie viel improvisiert?

Ein großer Teil ist improvisiert, jedoch auf bestehende Songs. Das Album besteht aus fünf Themen und auch im heutigen Set spielen wir all diese sowie ein paar, die bald veröffentlicht werden. Die Songs sind nur Figuren, aber sie sind für Leute gemacht, um darauf improvisieren zu können. Es ist frei gebaut, nicht durchkomponiert.

Diese Freiheit, die du dir dabei nimmst, findet man auch in deinen Noten wieder, nicht wahr?

Ja, oft verwende ich die geschriebenen Wörter wie Anweisungen oder Abläufe, aber ich nutze auch grafische Notation, also einen Mix aus traditionellen Noten, wie z. B. eine Bassline, und grafische Bilder, also Geschriebenes, Pfeile oder Zeichnungen.

Im Trailer zu deinem neuen Album meinst du „If you can make the scores kind of look like the way you want the music to sound, you’re already at the head of the game“ …

Damit will ich sagen, dass ich überlegen kann, wie ich mich am besten ausdrücke, wenn ich den geschriebenen Noten, die ich spielen will, den Charakter von Musik geben kann. Traditionelle Notation ist für mich mühsam; jetzt, wo ich meine Leute besser kenne. Für die neue Musik, die ich im Moment schreibe, habe ich an einem gewissen Punkt beschlossen, aufs Blatt zu zeichnen. Als ich dann die Blätter meinen Kollegen ausgehändigt habe, wurde die Musik plötzlich vollkommen anders. Es ist sehr hilfreich für die Band und auch für den Komponisten. Wie einfach kann man seine Idee zu Papier bringen. Das ist mein Ziel.

Du bist dieses Jahr viel auf Tournee gewesen. Gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Städten?

Die Band spielt jede Nacht anders, je nachdem, wie sie sich fühlt, wie sie kommuniziert … Aber das Publikum in Amerika und Europa ist auf jeden Fall unterschiedlich. Auf Konzerten in Europa ist das Publikum meistens größer. Wir spielen hier zwar viel auf Festivals, aber auch in Clubs. Ich hoffe deshalb und denke, dass wir heute Abend eine gute Stimmung haben werden. Amerika ist taff. Für Jazz gibt es nicht viel Unterstützung, deshalb sind in den USA alle sehr gestresst und nervös, wohingegen es in Europa mehr Anerkennung für den Musiker und Künstler gibt, denke ich.

Ist Free Jazz für dich ein Hobby oder ist es Arbeit? Hörst du in deiner Freizeit auch Free Jazz?

Ich spiele sehr viele verschiedene Richtungen. In Chicago war ich sehr lange in einer Art Thelonious-Monk-Band, mit der wir für Jahre in Restaurants spielten. Es benötigt viel Wissen, um sich in Jazz „auszukennen“. Ich spiele auch elektronische Musik. Mein Output ist experimentell kreativer Free Jazz. Wenn ich abhängen will, höre ich Hip-Hop. In diesem Moment höre ich keinen Free Jazz, aber in einer anderen Laune würde ich dies vielleicht. In ruhiger Umgebung, besonders wenn ich arbeite oder schreibe, ist Instrumentalmusik fantastisch.

Zum Abschied frage ich noch, ob Jaimie Branch Jazz zu Unterhaltungs- oder zu ernster Musik zählen würde, zwei Begriffe, die es im Englischen nicht gibt. Und das ist auch die Antwort:

It’s cliché, that those words exist only in German, isn’t it?

Jaimie Branch benötigt diese Kategorien nicht. Auch wenn sie auf mich zu Beginn einen anderen Eindruck gemacht hat, die Künstlerin steckte auch nach zehn Stunden Flug und Fahrt noch in ihr. Als sie schließlich das Café verließ, meinte ich zumindest, den Frack wiedererkannt zu haben. 

 

Foto: Peter Ganushkin

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