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October 6, 2018

Vom Können und Erreichen: Lyrischer Wille

Verena Spechtenhauser

Ein lyrisches Experiment, ein Kettengedicht der etwas anderen Art und Südtirol als Labor der Poesie. Das alles vereint sich im Buch “Lyrischer Wille“, das am Samstag, 6. Oktober um 20 H im Gasthaus 1477 Reichhalter in Lana erstpräsentiert wird. [Weitere Lesetermine, beispielsweise am 7.10. in der Dekadenz in Brixen oder am 9.11. in Wien bei der Buchmesse sowie im Raum für Kunst & Alltagskultur.] Wir haben unsere Nase schon mal in dieses frisch gedruckte, lyrische Juwel gesteckt und uns vorab mit den beiden Herausgebern Matthias Vieider und Arno Dejaco darüber unterhalten.

Worum geht es im Buch?

Lyrischer Wille versammelt die Ergebnisse eines groß angelegten literarischen Übersetzungsprojektes. 55 Autor_innen haben sich gegenseitig in insgesamt 15 Sprachen übersetzt. Dabei waren die Autor_innen oft mit Gedichten konfrontiert, die in einer ihnen nicht verständlichen Sprache geschrieben waren. Oder sie übersetzten von einer Sprache in dieselbe. Es ist ein vielsprachiges Experiment, das Fragen aufwirft, wie: Was heißt Verstehen? Was heißt Übersetzen? Wie gehe ich mit etwas um, das mir im ersten Moment unbekannt erscheint? Ist das Bekannte nicht auch zutiefst unbekannt? Und so weiter. Es geht um Mehrsprachigkeit und Diversität und das darin innewohnende Potential für ein gesellschaftliches Zusammenleben. Um die Möglichkeitsräume und Perspektiven, die Literatur hier bieten kann, um Barrieren zu überwinden und sich auf Augenhöhe zu begegnen. 

Warum Lyrik? Was fasziniert euch daran?

Lyrik hat sich zu einer sehr freien Form mit einem großen Reichtum an Experimenten und Wagnissen entwickelt. Diese Eigenschaften waren für unser Projekt sehr wichtig. Außerdem schätzen wir die Unmittelbarkeit und Verdichtung von Inhalten in der Lyrik und den spielerischen Umgang mit der Sprache.

Was hat der Wille mit Poesie zu tun?

Auch poetisches Handeln ist von einem Willen geleitet. Wir finden es schlüssig, diesen lyrischen Willen in den Vordergrund zu stellen und alle Begegnungen und literarischen Übersetzungen, die im Rahmen des Projektes stattfanden, unter diesem Begriff zu subsumieren. Auch um zu zeigen: Das kann und erreicht ein lyrischer Wille. Und es lässt sich viel davon lernen. 

LyrischerWille1-web

Wie aktuell und wichtig ist das Buch in euren Augen für Südtirol und darüber hinaus?

Angesichts der aktuellen xenophoben und hasserfüllten politischen und gesellschaftlichen Stimmung, die kein Ende nehmen zu scheint, angesichts des Un-Willens vieler, sich auf Andersartigkeit einzulassen, betrachten wir das Projekt als relevanten Beitrag zu einem verständnisvollen Miteinander. Auf Südtirol bezogen hat es nochmal eine spezielle Komponente, macht es doch bewusst, dass die von vielen angepriesene „Multikulturalität“ eine sehr beschränkte Sicht auf die gesellschaftliche Situation wirft. Denn es gibt hier eben nicht nur Spaghetti und Knödel, sondern eine viel mehrschichtigere kulturelle Vielfalt, die meistens vergessen und vernachlässigt wird. 

Nach welchen Kriterien habt ihr die Autor_innen ausgesucht? Und die Gedichte?

Wir wollten kein internationales Übersetzungsprojekt starten, sondern die sprachliche und literarische Vielfalt in einem kleinen geographischen Kontext zur Geltung bringen, deshalb haben alle Autor_innen einen Bezug zum Raum Südtirol, wurden hier sozialisiert oder leben bzw. lebten hier. Ein weiteres Kriterium war die Affinität zur Lyrik und das wichtigste: Möglichst alle Sprachen sollten vertreten sein. Das war kein leichtes Unterfangen. Es ist viel Zeit in die Suche nach Menschen geflossen, die nicht auf Deutsch oder Italienisch schreiben und so in der Südtiroler Literaturszene wenig wahrgenommen wurden, bzw. werden. Wir hoffen, dass sich das nun ändern wird. Die sieben Ausgangsgedichte und die Reihung der Autor_innen in den Übersetzungsketten haben wir von Mal zu Mal intuitiv festgelegt. Das war auch – neben der Auswahl der Autor_innen – der einzige kuratorische Eingriff unsererseits. 

Wie schwierig war es für euer Projekt einen Verlag zu finden?

Der Folio Verlag hat sofort Interesse gezeigt, das Projekt verstanden und unterstützt. Außerdem gab es schon eine Grundfinanzierung von der Provinz und der Region.

Arno Dejaco_Lyrischer Wille

Wie lange habt ihr daran gearbeitet? Was Positives, was Überraschendes, was Negatives erlebt?

Von der anfänglichen Idee bis zum Erscheinen des Buches sind etwa zweieinhalb Jahre vergangen. Wir sind durchgehend auf offene Ohren gestoßen und das Projekt hat bald ein Eigenleben entwickelt. Überraschend und schön war es mitzuerleben, mit welcher Sanftheit und Verantwortung die Autor_innen aufeinander reagiert haben, welche verblüffenden Übersetzungsmethoden angewandt wurden und wie sich die Übersetzungsketten nach und nach zu einer großen aussagekräftigen Skulptur zusammengefügt haben. Unsere Erwartungen wurden diesbezüglich bei weitem übertroffen. Nicht zu vergessen ist: Wir haben das Projekt nur initiiert und koordiniert. Lyrischer Wille ist in erster Linie eine gemeinsame Arbeit der beteiligten Autor_innen, denen wir sehr, sehr dankbar sind.

Ihr geht mit dem Buch auch auf Lesereise? Warum und wohin und in welcher Form?

Neben den klassischen Buchvorstellungen haben wir ein Leseformat konzipiert, in dem die Idee des Buches weitertransportiert wird. Dazu werden pro Lesung ca. vier Autor_innen engagiert, im Buch vertretene und lokal ansässige. Zusammen verfassen sie im Vorhinein einen eigenständigen Übersetzungszyklus, den sie dann im Rahmen der Lesung neben eigenen Werken präsentieren. Zudem wird das Buch vorgestellt und gemeinsam darüber diskutiert. Die erste Ausgabe “Lyrischer Wille #1” findet am 7. Oktober in der Dekadenz in Brixen statt. Für 2019 planen wir zirka sechs Termine im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus.

Matthias Vieider Foto (c) Amra Dedic_Lyrischer Wille

Was würdet ihr mit dem Projekt gerne erreichen? Was würdet ihr euch für das Buch wünschen?

Im Idealfall verbreitet sich der Lyrische Wille über die ganze Welt und trägt dazu bei, dass die Hasserfüllten aus ihrer toxischen Engstirnigkeit erwachen, endlich damit aufhören, aus dem Schatten ihrer selbsterfundenen Identitäts-Konstrukte heraus alles sogenannte „Fremde“ anzuekeln und lernen, feinfühlig, sanft und offen mit Diversität umzugehen. 

Und was macht ihr beide sonst noch so, wenn ihr nicht gerade Bücher herausgebt?

Wir bewegen uns zwischen Sprache, Musik und Bild. Und ärgern uns über menschenverachtende Politik, rassistisches Verhalten, patriarchale Strukturen und vieles mehr. Wir leben gerne.

Mehr Infos zum Buch gibt es hier.

 

Fotos: (1) + (2) Lyrischer Wille; (3) Arno Dejaco; (4) Amra Dedic

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