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September 13, 2018

Irritation anstatt Propaganda: Sissa Micheli

Eva Rottensteiner

Sie war gewissermaßen ein Kulturflüchtling, als sie sich aufgemacht hat, um in Wien ein neues Leben anzufangen. Getrieben vom Wissensdurst, den die damalige Kulturlandschaft in Bruneck, ihrer Heimat, nicht zu löschen vermochte, meldete sie sich für gefühlt alle Studiengänge an, die etwas mit Kultur, Human und Wissenschaft zu tun haben: Soziologie, Psychologie, Philosophie, Anthropologie, Romanistik, Anglistik … Die Rede ist von Sissa Micheli, Medienkünstlerin und Kunstfotografin, die mir gerade via WhatsApp-Call aus meinem zerkratzten Handybildschirm heraus von ihrem Leben erzählt. Ich würde an der Stelle erklären, wie sie aussieht, aber den Südtiroler Wlan-Umständen entsprechend sehe ich nur einen sich bewegenden Haufen von Pixeln, bei dem ich glaube Sissa Micheli vor einem riesigen Bücherregal am Schreibtisch ihrer Mutter zu erkennen, wo sie gerade zu Besuch ist. Willkommen in der flexiblen Interviewführung des 21. Jahrhunderts. Und so versuchen wir, selbstverständlich immer zeitversetzt, weil schlechte Verbindung, dem Pfeifen des Aufnahmegerätes in Kombination mit meinem Handy zu trotzen und die wichtigsten Stationen von Sissa Michelis Dasein zu besprechen.

Als eine der wenigen Südtiroler und Innen hat sie sich mittlerweile einen Namen im internationalen Raum gemacht UND kann von der Kunst auch leben. Ihre Kunst hat mindestens so viele Facetten wie ihre Interessen an der Uni. Von Fotografie über Videos bis hin zu Installationen, Inszenierungen – die Liste ist lang. Alle diese Elemente finden in ihren Arbeiten Einzug und werden miteinander kombiniert, denn immer gleiche Techniken und Themen gibt es bei ihr nicht, sonst könne sie nicht mehr wachsen, erklärt sie mir. „Ich kann nicht immer das selbe machen, um einer Marke oder einem bestimmten Stil zu entsprechen, weil ich mich als Künstlerin weiterentwickeln will.“

Sissa Micheli (5)

Ihr persönlicher Weg in die Kunst führte eher über Umwege und Seitenstraßen. Grund dafür war wohl ihre Familie, die dem frühen künstlerischen Interesse nicht viel abgewinnen konnte. Und das, obwohl ihre Familie so unkonventionell lebte, wie man als Bruneckner in den späten 80er Jahren nur leben kann. Die Mutter, eine Italienerin, die als Künstlerin, Journalistin und Professorin für italienische Literatur arbeitete, und Sissa Michelis Vater, Großmeister und zweifacher Italienmeister im Schachspiel: „In der Volksschule habe ich beim Beruf meines Vaters immer ‘Beamter’ geschrieben, weil die anderen Kinder ansonsten komische Fragen gestellt haben“, erklärt mir Sissa Micheli. Onkel und Uronkel waren beide Maler und ein anderer Onkel arbeitete als Regisseur. „Meiner Familie war klar, dass Künstlerin ein schwieriges Business ist.“ Doch sie ließ sich davon nicht beirren und entwickelte großes Interesse für den kleinen, schwarzen Apparat mit dem Blitz. Mit 18 ist sie zu ihrer ersten Fotokamera gekommen und bald war klar, dass sie mit der Malerei nicht sehr viel am Hut haben würde. Von Freunden hat sie sich dann das Wissen geholt und in Dunkelkammern ihre ersten Fotos selbst entwickelt.

In Wien lernte sie an der Schule für künstlerische Fotografie die Künstlerin Friedl Kubelka kennen, die als Professorin und Mentorin einen zentralen Einfluss auf Sissa Micheli hatte. Wenn sie von ihr spricht, schwingt Bewunderung mit und ich kann mir vorstellen, dass ihre Augen leuchten, ich bin allerdings schon froh, trotz der technischen Videosituation, sprich Pixelmisere, zumindest Nase von Kinn unterscheiden zu können. Sie erzählt mir von Kubelkas provokanten, ungewöhnlichen Ansichten und Unterrichtsmethoden, wie den Mappenschauen im kleinen Künstleratelier im Arbeiterviertel oder Künstlerbesuchen aus Paris: „Sie hatte einen sehr psychologischen Zugang zur künstlerischen Fotografie. […] Friedl Kubelka hat mir beigebracht aus Fehlern einen Stil zu machen, Ungewöhnliches zu machen und sich nicht zu anzupassen.“
Obwohl Kubelka überzeugt war, die Kunstakademie würde sie noch ruinieren und trotz der Befürchtung, den „A“- (wie Akademie) Stempel auch nicht mehr loszuwerden, führte Sissa Michelis Weg nicht vorbei an der Wiener Akademie für bildende Künste, wo sie mehr über Techniken und den wirtschaftlichen Faktor der Künstlerbranche lernte. Ich glaube, in einem Moment besserer Videoqualität doch einen Schmunzler in ihrem Gesicht zu lesen, wenn sie von ihrer ziemlich verrückten und anarchistischen Kunstklasse erzählt, wo einer immer Sandschlösser baute und eine andere sich in einem selbst gebauten Teppichkabinett einbunkerte.

Sissa Micheli (6)

Doch dann hört sie abrupt auf mit dem Schwärmen, als sie mir vom Aktzeichnen erzählt, das sie von Montag bis Freitag von 17 bis 19 Uhr hätte machen sollen. Ich bin verwundert. Aber wieso? „Ich konnte und wollte den Frauenkörper nicht als Objekt sehen. Die ganze Kunstgeschichte über haben immer Männer nackte Frauen gemalt. Und das ist ein Handwerk, das können Tausende gut“, reflektiert Micheli, die es zudem spannender fand, sich fotografisch weiterzuentwickeln.
Mit Frauen oder, besser gesagt, Frauenschicksalen setzte sie sich vor allem in ihrem Diplomprojekt und in den Folgeprojekten auseinander. Während ihres New York Stipendiums inszeniert sie Schlagzeilen von Zeitungsartikeln über Frauenschicksale. Sie dokumentiert die Wohnung ihrer Großmutter kurz vor der Auflösung und rekonstruiert dabei deren Vergangenheit. Sie sammelt Objekte von Hotelangestellten und lässt sie in der Luft schweben, irritiert mit einem Foto von einer Wäscheleine vor den 3 Zinnen, imitiert die italienische Politik anhand von Pinocchio-Nasen aus Eiswaffeln in den Räumlichkeiten des italienischen Kulturinstituts in Wien und weist durch scheinbar in der Londoner Landschaft fliegende Rettungsdecken auf das trügerische Wesen der Fotografie hin.

Mit ihrer Kunst hat sie verschiedene Intentionen. Mal will Sissa Micheli die Betrachtenden widerspiegeln, mal ist da ein erfinderisches Moment und mal ein sich selbst Ausdrücken, mal ein hinter die Kulissen von anderen Schauen, mal ein Kritisieren, Irritieren, Ironisieren, Hinterfragen. Nur eines will sie sicherlich nicht: „Vom Belehren halte ich nicht viel. Wir haben in der Geschichte gesehen, dass der Mensch für vieles einfach zu dumm ist. Und die Kunst sollte die Leute zwar zum Nachdenken bringen, aber nicht bekehren, denn sonst ist es Propaganda.“

Sissa Micheli (4)

Zurzeit kuratiert sie die Oper Dolomieu – transpressured für das Kulturfestival Transart in Südtirol, wo sie am 14. September von 20:30–1:00 H im Werkstoffzentrum Bruneck auf und zwischen alten Autoreifen, ungeliebten Schränken, verrosteten Ventilatoren und kaputten Kühlschränken die Geschichte des Geologen Dolomieu erzählt. Mit elektronischen Beats des venezolanischen Künstlers Rondon Marcos, einem klassischen Chor und in Rettungsfolien gehüllten Müllbergen wird das Publikum auf eine futuristisch angehauchte Performance mit einer Prise irritierenden Kontrasts à la Sissa Micheli mitgenommen.

Eigentlich will ich noch weiterfragen und weiterbohren, doch Sissa Micheli scheint erschöpft und der Akkustand meines Aufnahmegerätes ebenso, weshalb wir beschließen, die Leitung für heute zu kappen, und mein mittlerweile durch das Pfeifen entstandener Tinnitus und ich verabschieden uns an dieser Stelle. Auf ein baldiges Wiedersehen in Bruneck!

Photo Credits: Mirco Da Col + Matteo Piccelli + Sissa Micheli

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