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April 11, 2018

Was kostet der Fortschritt? “Das versunkene Dorf” beim BFFB 2018

Verena Spechtenhauser

Titel: Das versunkene Dorf

Regie: Georg Lembergh und Hansjörg Stecher

Worum geht’s? Stellt euch vor, ihr schließt eure Haustür hinter euch, dreht euch ein letztes Mal um, hebt eure Koffer und die übrigen Habseligkeiten auf einen Lastwagen und fahrt los. Ihr wisst zwar, wohin es geht, aber was euch dort erwartet, ist ungewiss. Gewiss ist nur eines: Euer Dorf, euer Haus, die Umgebung eurer Kindheit werdet ihr nicht mehr sehen. Denn auch wenn ihr eines Tages wieder nach Hause zurückkehrt, wird es dieses „Dahuam“ nicht mehr geben. Zumindest nicht mehr auf diese Art und Weise, wie ihr es gekannt habt. Das Dorf eurer Kindheit existiert nur mehr in euren Erinnerungen, in den Geschichten eurer Eltern und auf alten Fotos.

Umwerfend: die originalen Schwarz-weiß-Fotografien aus der Zeit vor der Seestauung.

Verstörend, dass die Bewohner von Graun sich nicht mit Händen und Füßen gegen den Stausee zur Wehr gesetzt haben. Hätte es wirklich soweit kommen müssen?

Beeindruckend: Wie sich die vertriebenen Familien eine neue Existenz aufgebaut haben – direkt am Ufer des Reschensees oder 100 Kilometer weiter südlich im Trentino.

Traurig schön: Die Erinnerungen der Zeitzeugen lassen den Zuschauer nicht kalt. Die Beschreibung, wie man als kleines Kind die Sprengung seines Hauses mitansehen musste oder wie man als junger Bursche nach dem Weg ins neue Zuhause fragen musste, weil man sich im Internat befand, als der Hof geräumt wurde und man nun nicht wusste, wo die Eltern wohnten, gehen ans Herz.

Auch schön: Des einen Leid ist des anderen Freud. So plakativ und grausam sich dieses Sprichwort anhört, enthält es doch auch einen Funken Wahrheit. Auch im Fall des verschwundenen Örtchens Graun. Während die Alt-Grauner dem Reschensee noch heute mit Skepsis und Verbitterung gegenüberstehen, haben sich die jüngeren Generationen damit arrangiert. Die Grauner Jugend betreibt Kitesurfing auf dem Wasser ihres Sees, der Schriftsteller Sepp Mall kann sich sein Dorf ohne See nicht vorstellen. Und für die Tourismusdestination Südtirol ist der Kirchturm im See eines der meistfotografierten Motive überhaupt.

Must see für … alle, die schon immer wissen wollten, wie der Kirchturm in den Reschensee kam.

Das Urteil: Die einen fliehen vor dem Krieg, die anderen vor dem Fortschritt. Unweigerlich machen sich beim Zusehen und Zuhören die aktuellen Berichte und Bilder über die Syrienflüchtlinge im Kopf breit. Der Dokumentarfilm regt zum Nachdenken an – ein Blick unter die glitzernde Oberfläche der Geschichte.   

Übrigens, wer sich noch weiter in das Thema vertiefen möchte: Die Geschichte von Graun wurde vor kurzem vom Künstlerkollektiv OHT – Office for Human Theatre aus Rovereto in Form der Musikinstallation Curon/Graun auf die Bühne gebracht. Im Frühjahr 2018 erscheint begleitend zum Film das Buch „Das versunkene Dorf“ im Raetia Verlag.

“Das versunkene Dorf” läuft im Rahmen des Bolzano Film Festival Bozen am Mittwoch, 11.4. um 20 H im Forum Brixen, am Donnerstag, 12.4. um 20.30 H im Ariston Kino in Meran sowie am Freitag, 13.4. um 17.30 H und am Samstag, 14.4. um 14 H im Filmclub in Bozen.

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