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February 1, 2018

Gegen den Strom: „Der sechste Kontinent“ von Andreas Pichler

Florian Rabatscher

Schon aus der Ferne hört man, dass sich viele Leute vor dem Capitol-Kino in Bozen tummeln. Normalerweise ist es hier doch still? Was da wohl los ist? Natürlich weiß ich es, mein Weg führt auch dorthin. Die Premiere des neuen Dokumentar-Films von Andreas Pichler, mit dem anfangs etwas verwirrenden Titel „Der sechste Kontinent“. Jedoch wird gleich zu Beginn des Films von einem der Protagonisten verraten, dass es sich um das Haus der Solidarität in Brixen dreht. Für ihn sei dieses Haus der sechste Kontinent, denn dort wohnen an die fünfzig Menschen aus verschiedensten Nationen, eine multikulturelle Wohngemeinschaft sozusagen. Dass es sich natürlich nicht um eine herkömmliche WG handelt, wird sehr schnell klar.

Jeder der Bewohner hat seine ganz eigene Geschichte zu erzählen. Da sicherlich auch recht heftige Schicksale darunter sind und viele der Insassen nicht vor die Kamera wollten, fällt der Fokus im Film auf vier der fünfzig BewohnerInnen. Deshalb kommt im Film die reale Szenerie mit vielen Menschen nicht vor, was aber den Einsichten überhaupt nicht schadet. Das Gefühl der Enge war dafür während der Kinopremiere am 31. Jänner 2018 zu spüren: Der Saal war total ausverkauft. Meine, etwas zu redselige, Sitznachbarin beschwerte sich wie schwer es war, noch an Karten zu kommen. Worauf ich ihr natürlich zustimmte und meine Freikarte unauffällig im Sitz verschwinden ließ. Sogar Erwin, einer der Protagonisten und Bewohner des Hauses, der heimliche Star des Films, musste sich mit einem provisorisch aufgestellten Stuhl als Platz zufrieden geben – was sofort eine Welle der Empörung durch den Saal rauschen ließ. Ein paar der anscheinend sehr Wichtigen drehten sich zu ihm um und fragten, ob es wirklich in Ordnung für ihn sei. (Wahrscheinlich würden sie ihn im Alltag wie Luft behandeln … Aber egal.) Um noch einmal zu betonen, wie voll der Saal war: Der Regisseur Andreas Pichler selbst saß neben mir auf den Stufen.  

Der Film beginnt nach einer kleinen Einführung von Andreas Pichler. (Und mein Bier ist schon leer, verdammt!) Doch die Bilder vor mir auf der Leinwand sind jetzt schon so schön, dass er mich an meinen Stuhl fesselt. (Das nächste Bier muss wohl warten.) Wirklich sehr beeindruckend und mit viel Liebe zum Detail: Die Szenen vom Haus selbst wirken wie aus einem Märchenfilm. Die gelungenen Filmübergänge mit Sequenzen vom Grundriss des Hauses verdeutlichen die ständige Unruhe des Hauses: Von oben sieht man die Menschen in den einzelnen Räumen herumwuseln. Das Haus der Solidarität (HDS) schläft nie wirklich. Andreas Pichler beschreibt später bei der anschließenden Diskussionsrunde, dass er das Haus als chaotisch und als Labyrinth in Erinnerung habe.  

Nach und nach erleben wir die Geschichten der Hauptprotagonisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Von der jungen Frau über den älteren und den jungen Mann bis hin zum Familienvater. Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass ihr Leben aus der Bahn geschmissen wurde und sie gemeinsam mit den Arbeitern des HDS versuchen, es wieder in die Reihen zu lenken. Das klappt natürlich nicht bei jedem, so wie er es sich vorstellt. – Also ein Film ohne Happy End. Besser gesagt: mit offenem Ende. Ich glaube, der Film sollte zum Nachdenken anregen. Was er bei mir auch schafft: Es wird einem vor Augen gehalten, wie schnell sich ein Leben drastisch ändern könnte. Er zeigt uns, dass wir manchmal öfters zufrieden sein könnten, unsere Erwartungen ein bisschen zurückschrauben und einfach mal die Bescheidenheit genießen sollten. Diese Botschaft wird uns vor allem von den MitarbeiterInnen des HDS vermittelt, die auch mit der Kamera begleitet werden und einen wichtigen Gegensatz zu den BewohnerInnen darstellen. 

Eigentlich war der Film ursprünglich ohne sie geplant, man wollte nur die BewohnerInnen zeigen. Zum Glück hat sich der Regisseur umentschieden, denn genau diese MitarbeiterInnen sind es, die an ihre Grenzen stoßen: Die Entscheidungsmacht, die sie über das Leben der einzelnen Personen besitzen, ist eine schwer zu tragende Bürde. Trotzdem müssen sie sich überwinden, es zu tun. Der Film springt ständig zwischen Höhen und Tiefen auf und ab, wie im realen Leben. Genauso fühlte ich mich als Zuseher: Von der ersten bis zur letzten Minute taucht man in die kleine Welt des Hauses ein. Sogar interne Streitigkeiten zwischen den Bewohnern, die zwar nur erwähnt werden, veranschaulichen die Entwicklung eines Mikrokosmos innerhalb dieser Mauern. Nichts wirkt gestellt oder gekünstelt, die Kamera bewegt sich wie eine Fliege durch das Geschehen. – Eine Fliege, da die Protagonisten scheinbar nicht bemerken, dass sie beobachtet werden. Das macht einen Dokumentarfilm in meinen Augen sehr gelungen. 

Am Ende kamen fast alle Mitwirkenden und Protagonisten – außer Erwin, der es nicht schnell genug schaffte – unter tosendem Beifall auf die Bühne. Die anschließende Diskussionsrunde, die von keinem geringeren als Zeno Braitenberg moderiert wurde, war sehr aufschlussreich. – Obwohl viele genau da den Saal frühzeitig verließen, was vielleicht ein bisschen an den eher langwierigen Kommentaren von Landesrätin Martha Stocker lag, denen man nur schwer folgen konnte, alte Politikerkrankheit natürlich. Auch mit Karl Leiter, einem Mitglied der Hausleitung des HDS, konnte sie sich nicht recht einig werden. Mehrmals betonte er, das HDS finanziere sich lieber selber und ganz ohne Landesbeiträge, denn würden sie eine öffentliche Finanzspritze beziehen, würden andere bei der Hauspolitik natürlich mitentscheiden wollen. Karl Leiter erzählte zudem, wie ein Landesbeamter einmal ihm gegenüber meinte, dieses Konzept würde nicht funktionieren: So viele Arten von verschiedenen Menschen unter einem Dach könne nicht klappen. Die Leitung des HDS betrachtete diese Aussage umso mehr als Ansporn, um genau so weiter zu machen. 

Deswegen passen diese Einrichtung und dieser Regisseur perfekt zusammen. Sie schwimmen beide eher gegen den Strom. Auch Andreas Pichler, ein talentierter Filmemacher, könnte Mainstream-Filme drehen und sicheren Erfolg erzielen. Doch auch er, wie das HDS, passen sich nicht an Normen an und funktionieren deswegen so gut. Sie tun das, was ihr Herz ihnen sagt, mit voller Hingabe. Genau dasselbe bringt der Film rüber. Mich hat er wirklich berührt.     

„Der sechste Kontinent“ von Andreas Pichler ist von 1. bis 15. Februar 2018 in den Filmclubs in ganz Südtirol zu sehen. 

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There are 2 comments for this article.
  • Rainer Zufall · 

    Guter Beitrag. Aber warum wurde es am Ende interessant? das sollte noch ausgeführt werden, wenn es schon erwähnt wird. Die Seitenhiebe auf die anderen Leute (“zu redselig” etc.) und das Hervorheben der eigenen VIP-ness (Freikarten, neben Regisseur sitzen etc.) hätte es nicht gebraucht. Arroganz macht den Artikel nicht besser.

    • Florian Rabatscher · 

      Hallo Rainer, schön das dir der Beitrag gefallen hat. Zu deinen Kritikpunkten: 1. Wo erwähne ich das es am Ende interessant wurde? Ich kann den Absatz leider nicht finden. 2. “zu redselig” war nicht abwertend gemeint. Es liegt mehr an meiner verschrobenen Art, dass ich bei Filmen nicht gerne rede. 3. Die Freikarte wurde nur erwähnt, da meine Nachbarin erwähnte, wie schwer es war noch an Karten zu kommen. Darauf war es mir sehr unangenehm eine Freikarte zu besitzen. Wie gesagt, ich bin wirklich ein verschrobener Kauz. 4. Leider hast du den Artikel auch nicht sehr aufmerksam gelesen. Der Regisseur saß nur zufällig neben mir, und zwar auf den Stufen. Hier ging es mir nur darum, zu verdeutlichen wie voll es war. Nicht um meine VIP-ness hervorzuheben.