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July 4, 2017

Wer stiehlt mir mein Sein?
Maria Walcher und “Lethe” – das Vergessen

Kunigunde Weissenegger

Lethe – den fünfjährigen Griechischunterricht in der Oberschule werde ich nicht vergessen, soviel ist sicher – ἡ Λήθη – Griechisch – bedeutet auf Deutsch „das Vergessen“ oder: λήθομαι – verborgen sein. Lethe ist in der griechischen Mythologie einer der Flüsse der Unterwelt, beherrscht von Hades. Wer Wasser davon trinkt, verliert vor dem Eintritt ins Totenreich seine Erinnerung, (was ja auch manchmal ganz praktisch sein könnte), damit die Seelen unbefleckt wieder geboren werden können. – Sozusagen der „magische Klare“ der alten GriechInnen … LETHE_Maria Walcher_ Photo Daniel Janosch_88s Das Thema des Vergessens hat Maria Walcher in den letzten Jahren intensiv beschäftigt und recherchiert: „Forget Forgot Forgotten“ nennt sich das umfangreiche Projekt, in dem sie ihre Überlegungen der Vergangenheit, der Zukunft, der Zeit dazwischen und der Erinnerung widmet. Vom 1. bis 8. Juli 2017 besetzt Maria Walcher von 11 bis 18 Uhr den Domplatz in Innsbruck und lädt uns ein, zusammen mit ihr (die Künstlerin ist anwesend) über fünf künstlerische Positionen in „Lethe“ und die Welt des Vergessens – des kulturellen und krankheitsbedingten – einzutauchen: beispielsweise unvermittelt und spontan, ein paar Gedanken ins Notizbuch „I Forgot About“ niederschreibend. Vergessen – oder verdrängt – taucht, plötzlich, wieder auf. LETHE_Maria Walcher_ Photo Daniel Janosch_25sSie kommt nicht aus; die Erinnerung ist, solange der „Knoten“ hält, im Stofftuch gefangen – oder doch aufbewahrt? – Den Gashahn zudrehen, die Blumen gießen, Leslie anrufen, wie „tragisch“ sind unsere „Souvenirs“ eigentlich? 

Denkzettel ohne Worte: Auf dem Domplatz steht auch eine Steintafel. Mensch mag den „Stein“ mit Blicken durchbohren, fünf Mal und abermals umkreisen, eine Gravur fehlt, eine Inschrift wird mensch darauf nicht entdecken. – Ob es so wohl auch mit unseren Erinnerungen ist? Sobald sie vermerkt scheinen, entrinnen sie uns … Denk mal!LETHE_Maria Walcher_ Photo Daniel Janosch_12sRund um den Brunnen unter der Buche tagen auf vier Bänken Meinungen. In der Soundinstallation „Symposium“ lassen uns vier Stimmen an ihrer Meinung zum Thema „Vergessen“ teilhaben: In die Ohren fließt Radikales, Versöhnendes oder Erörterndes und: „Du stiehlst mir mein Sein“. Und im Hintergrund das „Gläserkastl“ …Und du? Und ich? Was habe ich denn letzthin vergessen? … Tja, ich weiss es nicht mehr. Klar! … Träume vergesse ich immer gern bzw. erinnere mich immer nur sehr vage daran. Gesichter, Gesten, Namen, Gefühle. Auf alle Fälle spielen Gefühle ein große Rolle. 

Und was, wenn ich nicht vergessen kann oder will? Vorsätzlich oder unwissentlich. Absichtlich oder aus Versehen. Verstrickt, verheddert, verzettelt. „Man sagte uns, wir sollten vergessen; das taten wir schneller, als es sich irgendjemand vorstellen konnte.“ – Hannah Arendt aus „We refugees/Wir Flüchtlinge“ zitierend.  LETHE_Maria Walcher_ Photo Daniel Janosch_68sZerstreut, vergesslich, abgewetzt, ausgedient, alt, weise … „Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergißt.” Weiß auf grau, „Binär“, digital codiert, ist ein von Theodor Adorno an Walter Benjamin geschriebener Satz analog in eine Hängematte gestickt. Online, offline, etwas dazwischen … Es ist die Überlegung wert. 

… fast hätte ich vergessen, dass wir uns kennen …

Alle Fotos: Daniel Janosch für “LETHE” von Maria Walcher

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