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September 23, 2016

Ändere die Welt!
Jean Ziegler in Meran und Bozen

Christine Kofler

An einem heißen Julitag hielt ich den Flyer der Reihe „Appuntamento a Merano/Autoren in Meran“ in meinen Händen. Die Sonne brannte, die Mücken surrten und ich freute mich. Jean Ziegler, der umstrittene Schweizer Soziologieprofessor, bekanntester Globalisierungskritiker Europas oder der Welt, lautstarker Kämpfer für die Verdammten dieser Erde, der Stachel im Fleisch von Schweizer Großbanken und multinationalen Unternehmen  – sprich: eine lebende Legende – würde nach Südtirol kommen. Oh, wie schön wäre ein Interview! Ich würde mit einem Mann sprechen, der einst Che Guevara durch Genf kutschierte und mit Sartre im Cafè de Flore über Algerien diskutierte. Der seinen Namen (Jean Z. hieß eigentlich früher Hans Z.) Simone de Beauvoir verdankte. All die gedruckten Wörter aus Studententagen würden lebendig werden.

„Demokratie kennt keine Ohnmacht“

Die Chefredakteurin organisierte einen Interviewtermin. Sie würde fotografieren, ich kluge Fragen stellen, vielleicht Marx zitieren, aus einem wenig bekannten, frühen Werk. Wir würden im opulenten Park des Hotel Laurin im Schatten alter Kiefern sitzen und über sein aktuelles Buch „Ändere die Welt!“ sprechen. Gleichzeitig „intellektuelle Biografie“ und „Kampfschrift“,  beschreibt er darin folgende These: Der Neoliberalismus sei eine obskure Ideologie, die sich als „Naturgesetz“ tarne und so westliche Bürger zu ohnmächtigen Zombies mache. Doch Demokratie, so Ziegler im Buch, kenne keine Ohnmacht. Die BürgerInnen in den europäischen Staaten könnten den Hunger in der Welt beenden, indem sie die Regierungen mit demokratischen Mitteln dazu zwingen, Maßnahmen dagegen zu ergreifen – etwa das Verbot von Spekulationen auf Agrarrohstoffe. „Zum ersten Mal in der Geschichte des Planeten ist heute der objektive Mangel an materiellen Gütern, die zum elementaren Überleben der Menschen nötig sind, überwunden,“ schreibt er. Wenn heute alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger stirbt, dann „wird dieses Kind ermordet“ und zum Opfer einer „kannibalischen Weltordnung“.

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Große Politik im Meraner Kurhaus

Diese Grundgedanken aus seinem Buch wiederholte Ziegler auch am Montagabend im prall gefüllten Meraner Kurhaus. Im Gespräch mit Bürgermeister Paul Rösch erläuterte der furchtlose Schweizer, von 2000 bis 2008 Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung, die Ursachen des Hungers: die erwähnten Spekulationen mit Grundnahrungsmittel, die Verwendung von Nahrungsmittel für die Produktion von Bioethanol, der vermehrte Anbau von Futtermittel aufgrund des hohen Fleischkonsums der Industrieländer, die Subventionierung europäischer Produkte und die daraus resultierende Zerstörung von kleinbäuerlichen Strukturen.

Anschließend durften die BesucherInnen Fragen stellen. Zur Diskussion standen das Freihandelsabkommen TTIP („Ich bin dagegen“), die Korruption in Afrika („Wir müssen uns auch fragen, welche Konzerne von der Korruption profitieren“), die Lage in Syrien („Der Veto-Mechanismus der UNO muss reformiert werden“) und die Frage, warum und ob Che Guevara Cohiba rauchte und eine Rolex trug („Nein! Aber natürlich braucht ein Revolutionär eine Uhr. Ich trage Swatch.“). Dem Herrn aus dem Publikum, der diese Frage stellte, sei – nach einer kurzen Recherche –  gesagt: Tatsächlich soll Che Guevara eine Rolex getragen haben, allerdings ein einfaches Stahlmodell. Die Uhr hatte jedoch in den 60er-Jahren noch nicht denselben Status wie heute und galt als äußerst zuverlässig. Sie war die Kalaschnikow unter den Uhren.

Tick, tack, tick, tack…

Eine Cohiba und eine Rolex würden auch zu den tiefen Ledersesseln in der Hotelbar passen, in die wir an einem Dienstag Mitte September um 16.40 H versinken. Noch fünf Minuten, dann würden wir Jean Ziegler treffen. Wir warten und ich bewundere die Fresken. Einige Minuten später spazieren wir durch den Park und suchen zwischen Rosenbüschen und Glashaus nach dem Schweizer. Wir kehren zurück an die Bar und fragen den Oberkellner um Rat. Herr Ziegler sei eben noch da gewesen und hätte im Nebenraum ein Interview geführt. Er würde sicher gleich wiederkommen. Nein, er wisse nicht ob er hier übernachte. Wir warten und sprechen über das Buch. Ich bewundere die Fresken, die hohen Jugendstilfenster.  Die Uhr schlägt fünf. Wir sprechen über die Kunst im Hotel. Gehen an die Rezeption. Die freundliche Dame erklärt, dass Herr Ziegler hier nächtige. Ahh!! Sie nimmt den Telefonhörer. Wartet. Legt wieder auf. Meint, es sei besetzt. Sie würde es später versuchen. Nach zehn Minuten ist sie wieder frei. Telefoniert. Verzieht das Gesicht, legt auf. Flüstert. Herr Ziegler sei etwas böse, weil sie schon um 16.30 verabredet waren. Unisono: „Nein, um 16.45!“ Blick auf die Uhr – 17.15. Ohhh!!

Eine Rolex im Dschungelkampf

Ich schüttle Jean Ziegler die Hand und er sieht nicht böse aus, höchstens einen klitzekleinen Moment lang. Er hat einen herzlichen Händedruck und blitzend kluge braunblaue Augen. Leider sei er in zehn Minuten mit Herrn Bergmeister, dem Präsidenten der Stiftung Sparkasse und  Moderator des um 18.00 H folgenden Vortrags im Waltherhaus, verabredet. Er könne nun kein Interview mehr geben. Wir sprechen über den Abend zuvor im Meraner Kurhaus. „Die Stadt ist wunderschön,“ sagt er. Überhaupt Südtirol. „Ein bisschen wie die Schweiz, oder?“ sage ich. „Korrupt“ sagt er lächelnd. „Aber euer Bürgermeister ist ein guter Mann.“ „Und wer ist eigentlich Herr Bergmeister, erzählt…“ Zum Abschied gibt er uns seine Karte. Ich denke an die Rolex von Che Guevara. Er wird seine Gründe gehabt haben.

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Ziegler, Jean: “Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen” Penguin Verlag, 2016

Fotos: Stadtbibliothek Meran

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