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July 28, 2016

“Unity in Diversity”: die Bedeutung Europas für Minderheiten, MigrantInnen, Marginalisierte innerhalb nationalstaatlicher Hegemonien

Katja Telser
Heute, 28.7. um 18 H wird im Schloss Velthurns zum Thema „Utopie Natur: Wovon träumen Biobauern“ diskutiert; um 21 H findet im Radoarhof in Feldthurns eine Lesung von Maxi Obexer zu „Unter Tieren“ statt. Am Freitag, 29. Juli 2016 um 18 H findet die abschließende Lesung im Lungomare-Projektraum in Bozen statt. In einem Lese-Marathon werden sämtliche Statements des Projekts „Utopia Europa“ präsentiert, die zu den Themen „Welche Angst? Welche Krise? Welche Grenzen?“ verfasst wurden. Dazwischen finden Gespräche statt. Abgerundet wird der Abend von Performances, Diskussionen und Musik.

 

 

Im Zentrum steht Europa – mit besonderem Schwerpunkt auf die Bedeutung der Zivilgesellschaft. Die Rede ist von „Unseren Utopien“, dem Thema der diesjährigen Summer School Südtirol. Am ersten Tag, den 25. Juli 2016, drehte sich im Radoarhof in Feldthurns alles um die Fragen: Wem gehört Europa? Wem gehörte es bisher? Wem sollte es gehören? Unter verschiedenen Gesichtspunkten wurden sie von einem Politiker, einer Lehrstuhlinhaberin für Menschenrechtsarbeit, einem Künstler und einer Autorin diskutiert. Moderiert wurde die Veranstaltung von Maxi Obexer. Ein nacherzählender Einblick: 

Der Landesrat für Bildung, Kultur und Integration Philipp Achammer sprach die Werte der Europäischen Union an, auf die man sich zurückbesinnen solle. Zurzeit würden ökonomische Interessen im Mittelpunkt stehen. „Kehren wir zurück, indem nicht nur nationale Interessen aufeinanderprallen und dann der kleinste gemeinsame Nenner gesucht wird – und zwar vor allem aus wirtschaftlicher Sicht – sondern entdecken wir die wesentlichen Werte, die Werte der Menschlichkeit wieder.“

„Ich bin zwar Passeuropäerin, aber dieses ‚Wir‘ geht mir nicht so leicht über die Lippen.“ – Es sei wichtig zu überlegen: Wer darf zu diesem Europa gehören und wer nicht? Professorin Nivedita Prasad, Lehrstuhl für Menschenrechtsarbeit und Social Work an der Alice Salomon Hochschule Berlin würde gerne zu Europa gehören, aber je länger sie in Deutschland lebe, desto weniger gelinge es. Die aus Indien stammende Frau ist als Mädchen nach Deutschland gekommen. Je öfter sie als die „Andere“ erklärt wurde, umso mehr Distanz habe sie zu Europa bekommen. Studien würden belegen, dass MigrantInnen, je länger sie in Europa seien, umso desintegrierter würden. „Ich bin mittlerweile zu einer Integrationsallergikerin geworden“.
Neuankömmlinge glaubten zu Recht an Europa, weil es nach außen gut inszeniert würde. Sobald sie dann aber in Europa lebten, seien die Lebensbedingungen jedoch jenseits dessen, was in Europa üblich sein sollte. Das sei eine große Enttäuschung.
„Meine Beziehung zu Europa ist eher eine distanziert freundliche: mal mehr, mal weniger.“
Die einzelnen Länder hätten eigentlich verbindlich unterzeichnet, dass sie sich verpflichteten, die Menschen, die herkommen, zu schützen. Das beinhalte, die Menschen unterzubringen, ihnen ein Recht auf Arbeit zu geben und Vieles mehr. Faktisch sei es aber so, dass zum Beispiel syrische Flüchtlinge zwei Jahre lang kein Recht auf Familiennachzug haben. Doch sei vor allem im Zuge einer Flucht die Familie unentbehrlich. Die Folge davon sei, dass immer mehr Frauen und Kinder in den Booten sitzen.
Es gebe viele Menschen, die eine europäische Botschaft oder eine Schengenbotschaft gesucht hätten. Nach außen sei es schwer zu vermitteln, dass es dieses eine gibt, das kein Land und kein Staat ist, aber ein Visum vergibt. Darüber hinaus gibt es jedoch keinen Ort, an dem man dieses Visum abholen kann. „Vielleicht würde ich mich als ‚die andere Europäerin‘ angesprochen fühlen.“ 

Für Adnan Softic, Künstler, Autor in Bosnien und Berlin, ist der Begriff der Balkanisierung ein Synonym für Verfall und das nicht nur aus westeuropäischer Perspektive. Auch auf dem Balkan selbst werde das Wort aufgegriffen und auf die Nachbarstaaten projiziert. „Die Kroaten seien stets bemüht zu erklären, dass der Balkan eigentlich erst mit den Nachbarstaaten Bosnien und Serbien beginnt. Die Slowenen sehen sich selbst als die Grenzhüter des Westens. Die Österreicher wiederum seien der Überzeugung, dass Slowenien, das einmal zu Jugoslawien gehörte, natürlich ein Balkanstaat sei. […] Und so geht die Sache immer weiter bis nach Großbritannien, wo man nicht einmal mehr darauf pocht, europäisch zu sein. Doch wo ist dann das wirkliche Europa?“ Europa definiere sich durch sein Nicht-Balkansein. Das Unbehagen, das der Balkan im Westen auslöst, sitze tief.
Doch warum ist das so? Blicke Europa etwa in das eigene negative Spiegelbild, wenn es den Balkan betrachtet? „Unity in Diversity – Einheit in Vielheit“ lautet das Leitbild der EU. Europa mit seinen unterschiedlichen Sprachen brauche Vielfalt, um Kriege zu verhindern. 
Vielleicht führe den WesteuropäerInnen die Geschichte des Balkans die Angst vor dem Scheitern ihrer kulturellen Vielfalt vor Augen. Doch der Balkan zerfiel nicht wegen seiner Vielfalt. Er scheiterte an Nationalismen. 
Anstelle von „Unity in Diversity“ trete in den europäischen Ländern immer die simple Gleichung: Staat ist gleich Nation ist gleich Religion ist gleich Sprache ist gleich Geschichte. In den alten Vielvölkerstaaten hingegen wurde die Idee von „Unity in Diversity“ tatsächlich gelebt. Man sei mit mehreren Sprachen zurecht gekommen. Es habe kaum eine eindeutige ethnische Mehrheit gegeben.
„Es ist an der Zeit, sich an die wahre europäische Geschichte des Balkans zu erinnern. Legen wir sie offen. Wir werden sehen, die Balkanisierung Europas ist kein Untergangsszenario. Sie ist unter demokratischen Vorzeichen der einzige Weg.“ 

Der Beitrag Berliner Autorin Sasha Marianna Salzmann handelte von der gegenwärtigen Situation der Juden und Jüdinnen in Deutschland. „Wir sind alle irgendwo eine Minderheit. Ich glaube nicht an die Mehrheit.“ Die Konstruktion des Juden in Deutschland nach 1945 sei nach deutschen Erwartungen und Bedürfnissen geformt worden. Juden würden jedoch auch eine wichtige Rolle in der Dramaturgie deutscher Selbstvergewisserung spielen. „Über sie stabilisiert sich eine deutschpostnationalsozialistische Identität.“

Die Summer School 2016 findet vom 24. bis 29. Juli 2016 statt und besteht aus Workshops, Vorträgen, Diskussionen und Lesungen. Es handelt sich um ein Forum für offene Gesellschaft mit AutorInnen, WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen, AktivistInnen, Bauern und Bäuerinnen. Parallel finden Literaturwerkstätten statt, die der Ausbildung und dem Austausch von AutorInnen aus Südtirol, Italien und dem deutschsprachigen Ausland dienen. Das Projekt leiten Maxi Obexer und Veronika Springmann.

Die Summer School 2016 ist eine Veranstaltung des Neuen Instituts für Dramatisches Schreiben (Nids) in Zusammenarbeit mit: Schloss Velthurns, Literatur Lana, Südtiroler Autorenvereinigung (SAV), Bildungsausschuss Feldthurns, Freie Universität Bozen, Lungomare – Projektraum für Kultur und Gestaltung, 39Null – Magazin für Gesellschaft und Kultur, Kulturelemente, Vereinigte Bühnen Bozen. Sie ist gefördert von der Autonomen Provinz Bozen und der Stiftung Sparkasse.

Foto: franzmagazine; v. l.: Maxi Obexer, Prof. Nivedita Prasad, Sasha Marianna Salzmann, Philipp Achammer, Adnan Softic.

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