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July 21, 2016

Lorella Zanardo: “Warum steht eine junge, halbnackte Frau im Studio stumm zwischen alten Männern?”

Christine Kofler

Derzeit findet die sechste Auflage der literarischen Reihe “Appuntamento a Merano / Autoren in Meran“ statt. Noch bis 2. September 2016 statten interessante Persönlichkeiten (bei freiem Eintritt!), wie etwa der Kunsthistoriker Flavio Caroli oder der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, dem Pavillon des Fleurs einen Besuch ab, lesen aus ihren Büchern und treten mit dem Publikum in Dialog. Am Freitag, 22. Juli, ist Lorella Zanardo zu Gast. Wir haben der italienischen Frauenaktivistin, die mit ihrem Dokumentarfilm “Il corpo delle donne” auch im Ausland viel Aufsehen erregte, vorab einige Fragen gestellt.

Lorella Zanardo, was erwartet die ZuhörerInnen am Freitag Abend?

Zum einen ein Dialog zwischen mir und der Journalistin Fausta Slanzi, die das Treffen moderiert. Wir werden über mein Buch “Il corpo delle donne” sprechen und über den gleichnamigen Dokumentarfilm. Wir werden auch aktuelle Bilder aus dem Fernsehen zeigen und diese thematisieren.

Du hast im Jahr 2009, zusammen mit Cesare Cantù und Marco Malfi Chindemi, den Dokumentarfilm “Il corpo delle donne” gedreht. Der Dokumentarfilm zeigt ein erschütterndes Bild davon, wie Frauen im italienischen Fernsehen dargestellt werden. Hat sich das Fernsehen in der Post-Berlusconi-Ära verändert?

Nein, im Grunde nicht. Bereits damals fragten mich ausländische Journalisten, ob Berlusconi “schuld” an dieser Art der Darstellung der Frau im TV sei. Ich glaube, er war ein Produkt der gesellschaftlichen Situation, irgendwo anders wäre er gar nicht so weit gekommen. Das italienische Fernsehen hat sich seit seinem Abgang nicht allzu sehr verändert. Aber ich denke,  die Proteste der Frauen, die unter anderem der Dokumentarfilm damals ausgelöst hatte, haben das Bewusstsein für die Thematik geschärft – vor allem bei ganz jungen Frauen. Erst kürzlich druckte die Zeitschrift IO DONNA, wohlgemerkt Teil des Corriere della Sera und ein Magazin, das sich einen feministischen Anstrich gibt, ein Foto einer jungen Schauspielerin ab. Darunter stand in zwei Zeilen in etwa, dass die junge Frau schon hübsch sei, aber die Füße etwas dünner sein sollten für die Kleidung, die sie trägt. Es brach ein Proteststurm los! Hunderte Frauen schickten Nachrichten und kritisierten die Redaktion. Vor einigen Jahren wäre das so noch nicht denkbar gewesen. Das sind Signale, dass es in der italienischen Gesellschaft ein neues Bewusstsein gibt.

Laut Statistik schauen ItalienerInnen mehr fern und lesen weniger Zeitung als ihre europäischen NachbarInnen. Warum ist das Fernsehen in Italien so wichtig?

Wir hatten nun 30 Jahre lang eine wirklich verheerende Situation, was das Fernsehen betrifft. Das große Problem ist ja nicht das Fernsehen an sich, sondern das Programm. In anderen Ländern gibt es staatliche Fernsehanstalten, die angemessene Inhalte zeigen. Etwa der deutsche Sender ARD oder die BBC. Klar, das Programm der Privatsender in anderen Ländern ist ähnlich wie in Italien. Doch dort nehmen zumindest die staatlichen Sender ihren Bildungsauftrag wahr. Auf der Webseite der BBC steht, dass das Ziel des Senders die Bildung der Zuseher ist. Das steht auch auf der Webseite der RAI. Doch das stimmt so nicht, das passiert einfach nicht. Und trotzdem zahlen wir Steuern dafür. In Italien erreicht das Fernsehen über 98 % aller ItalienerInnen, junge Menschen schauen über das Internet Fernsehen. Südlich von Rom hat nicht nur jeder Haushalt einen TV, in jedem Zimmer steht ein Fernseher! Warum wird das Fernsehen nicht zum Bildungsinstrument gemacht? Hier wird nicht investiert. Wenn ich Renzi wäre, würde ich das angehen. Man könnte so die Quote der SchulabbrecherInnen senken, den funktionalen Analphabetismus bekämpfen. Fernsehen könnte ein Instrument sein, um den Bildungsrückstand in Italien aufzuholen.

Vor vier Jahren hast du das Projekt “Nuovi occhi per i media” aus der Taufe gehoben. Das Projekt, bei dem du mit Schulen zusammenarbeitest, stellt Instrumente für einen verantwortlichen Umgang mit Medienkonsum bereit. Wie kann man sich das vorstellen?

Wir fragen die SchülerInnen, was sie sich ansehen. Wir kritisieren nicht, wir spielen nicht den Richter. Dann nehmen wir dieses Bildmaterial her und dekonstruieren es, sprechen darüber. Wir unterrichten keine Theorie, sondern gehen das sehr praktisch an. Es geht um Medienerziehung, ein Fach, das in anderen Ländern längst ein Pflichtfach in der Schule ist – in Italien nicht. Und dabei wäre es bei uns so dringend notwendig. Heute sehen sich neunjährige Kids im Internet Pornos an. Wir bräuchten unbedingt Sexual- und Medienerziehung in den Schulen.  

Lorella Zanardo, du hast früher als Marketingdirektorin eines großen Konzerns gearbeitet, deine Karriere dann abgebrochen und sich als Dokumentarfilmerin und Schriftstellerin mit den Themen Frauen und Medien auseinandergesetzt. Warum hast du diesen Weg eingeschlagen?

Wenn mich jemand fragt, was ich mache, sage ich, dass ich eine Frauenaktivistin bin. Dieser Selbstdefinition ist ein Kampf vorausgegangen. Ich schreibe zwar, aber ich bin keine Schriftstellerin, mache Dokumentarfilme, aber bin keine Filmemacherin. Ich schreibe und drehe mit dem Ziel, Diskussionen über die Rechte der Frauen anzuregen. Es war ein Glück, dass ich ins Ausland ging. Als ich zurückkam war vieles, was mir vorher normal erschien, befremdlich. Warum steht hier eine junge, halbnackte Frau im Fernsehstudio stumm zwischen all den alten Männern? Wenn man etwas dauernd sieht, gewöhnt man sich daran. 
Man muss sich auch bewusst sein, dass hinter diesem medienvermittelten Frauenbild viel Leid steckt. Ich habe nach der Veröffentlichung meines Dokumentarfilms hunderte Zuschriften von Frauen bekommen, die von diesem Leid, einem Bild entsprechen zu müssen, erzählten. Nebenbei: Es ist verschwendetes Potential, wenn Frauen ihre Energie darauf verwenden, schön und jung sein zu müssen, anstatt sich um wichtige Dinge kümmern zu können.

Appuntamento a Merano / Autoren in Meran
Lorella Zanardo und Fausta Slanzi im Gespräch
22. Juli 2016, 21.00 H
Pavillon des Fleurs, Freiheitsstraße 39, Meran
Eintritt frei

Foto: Lorella Zanardo

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