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January 19, 2016

Die Unerhörten: Elfriede Jelineks “Die Schutzbefohlenen”, inszeniert von den VBB

Christine Kofler

“Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da,” heißt es am Ende des Stücks “Die Schutzbefohlenen”, das am 14. Januar 2016 an den Vereinigten Bühnen Bozen Premiere feierte und noch bis Samstag, 23.1. gezeigt wird. In den eineinhalb Stunden zuvor stehen die Verfolgten und Vertriebenen, um die sich das Stück dreht, knöcheltief im Wasser und rezitieren Elfriede Jelineks kalte Sätze, die wie Seziermesser so lange in Worthülsen schneiden, bis sie platzenDie Schutzbefohlenen - Elfriede Jelinek - VBB Bozen - franzmagazine 04Der die Aufführung dominierende, fortlaufende Textfluss eint zahllosen Stimmen zur Flüchtlingsthematik. Daneben schaffen wenige, sorgsam eingesetzte Requisiten eine starke und ebenso präzise Bildsprache. Die glitzernde Kälteschutzdecke wird zum Kleid Anna Netrebkos und lässt sofort die Bilder jener Flüchtlinge wiederauferstehen, die an der Grenze zwischen Frankreich und Italien auf den Meeresklippen festsaßen. Die Schutzbefohlenen - Elfriede Jelinek - VBB Bozen - franzmagazine 05Der Verweis auf Anna Netrebko und Jelzins Tochter erinnert daran, dass es für zahlungskräftige Prominente durchaus Einbürgerung im Eilverfahren gibt. Das Europa der Werte gilt für jene, die es sich leisten können. Im überschwemmten Bühnenraum kämpfen die in schwarzen Hosen und weißen Hemden gekleideten, namenlosen Figuren ständig gegen die Fluten an und schicken schwarze Papierschiffe über jenes Meer, das für die einen Grab, für die anderen Freiheit bedeutet. Im Hintergrund ertönen Kirchenglocken und rufen den Ausgangspunkt des Stücks, die Besetzung der Wiener Votivkirche durch 30 Asylbewerber im Jahr 2012, in Erinnerung.Die Schutzbefohlenen - Elfriede Jelinek - VBB Bozen - franzmagazine 03Die Figuren bringen den mäandernden, mit zahlreichen intertextuellen Bezügen gespickten Text, meist einzeln und – selten – auch als Chor vor. Mal sprechen sie eindringlich und direkt ins Publikum gewandt, mal räsonieren sie scheinbar unbeteiligt, mal verzweifelt flehend. Doch was auch immer gesagt wird, von Anfang an scheint klar: Hier wird niemand erhört. Die körperliche Präsenz der Schauspielerinnen und Schauspieler und viel Bewegung bringen eine zusätzliche Dynamik in ein Stück, das ganz ohne identifikatorische Rollen und ohne Handlung auskommen muss. Dazu tragen auch die von Benno Steinegger im Südtiroler Dialekt vorgetragenen Interwiev-Passagen zur Flüchtlingsthematik bei. Genauso wie der an die Aufführung anschließende Runde Tisch mit Asylexpertinnen und Flüchtlingen, knüpfen die vertrauten Dialekt-Passagen an die Wirklichkeit vor dem Bozner Stadttheater an. Die Schutzbefohlenen - Elfriede Jelinek - VBB Bozen - franzmagazine 02Solchen Regieeinfällen, der klug eingesetzten Reduktion und dem Vertrauen in den Text ist es zu verdanken, dass die artifizielle Sprache Jelineks bis zu den ZuschauerInnen durchdringt und sie berührt, zum Beispiel dann, wenn es frei nach Hyperions Schicksalslied heißt: “Es fallen die leidenden Menschen wie Wasser von Klippe, über die Kippe, übers Gebirg, durchs Meer, übers Meer, ins Meer, immer geworfen, immer getrieben, jahrelang schwimmen sie, ertrinken sie, stürzen sie ab, ersticken im Kühlwagen, sterben im Flugzeuggestänge, stürzen ins Autobahnklo, stürzen vom Balkon, ja, genauso Leute wie wir! Die sind alle wie wir!”Die Schutzbefohlenen - Elfriede Jelinek - VBB Bozen - franzmagazine 06

Fotos: franzmagazine

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