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December 18, 2015

“Der Zaun” von Dietmar Telser:
Europa gibt derzeit ein klägliches Bild ab

Maximilian Mayr
Was passiert entlang der Grenzen Europas? Was haben die Flüchtlinge vor Europas Mauern zu erzählen? Claus-Gatterer-Preisträger Dietmar Telser ist mit seiner Multimedia-Reportage "Der Zaun" am 22. Dezember 2015 um 9h im UFO Bruneck zu Gast.

Drei Monate reisten Zeitungsjournalist Dietmar Telser und Fotograf Benjamin Stöß entlang der Außengrenzen unseres Kontinents – von Marokko und Tunesien über Spanien, Italien bis nach Griechenland, Bulgarien und die Türkei – und dokumentierten Gespräche mit Bürgermeistern, freiwilligen HelferInnen, GrenzpolizistInnen, AktivistInnen und Flüchtlingen. Aus den Interviews und Fotos ist die multimediale Online-Reportage mit dem Namen “Der Zaun – Eine Reise entlang der Grenzen Europas” entstanden, die ihresgleichen sucht. Selten wurde die aktuelle Flüchtlingsthematik erschreckender und aufrichtiger zugleich in Bild und Wort eingefangen. Anfang Dezember 2014 wurden die Reportagen auf sueddeutsche.de erstmals veröffentlicht. Für diese Ausnahmeleistung erhielten Dietmar Telser und sein Team 2015 den renommierten Prof.-Claus-Gatterer-Preis für sozial engagierten Journalismus und den europäischen Medienpreis für Integration Civis. Im Interview mit uns hat der gebürtige Pusterer über seine Arbeit gesprochen.

Dietmar Telser, für “Der Zaun” hast du dir eine berufliche Auszeit von deiner Arbeit bei der Koblenzer Rhein-Zeitung als als Politikredakteur genommen. Warum war dir dieses Projekt so wichtig?

Die Idee geht auf eine Recherchereise zu den Folgen des Arabischen Frühlings im Jahr 2012 zurück. Auf meiner Reise durch Nordafrika traf ich auf Flüchtlinge, die von Ort zu Ort, von Land zu Land irrten und immer wieder an Grenzen scheiterten. Die Gespräche haben mich damals sehr bewegt und es war klar, dass die Thematik, die so komplex und vielschichtig ist, einer größeren Recherche und einer umfassenderen Darstellungsform bedarf. Der Gedanke war, sich dem Thema losgelöst von allen aktuellen Nachrichtenzwängen zu nähern und auch umfassend darzustellen. Dafür benötigt man vor allem viel Zeit.Der Zaun - Dietmar Telser + Benjamin Stoess + Thorsten SchneidersWie du anhand der Reportage zeigst, sind zahlreiche Beamte, Bürgermeister und BürgerInnen mit den aktuellen Flüchtlingsströmen überfordert. Einige Länder in Europa andererseits weigern sich, Menschen in irgendeiner Weise aufzunehmen. Wie verhält sich Europa in der Flüchtlingskrise?

Europa gibt in der Tat derzeit ein klägliches Bild ab: eine Staatengemeinschaft, die von Egoismen und nationalstaatlichen Interessen getrieben ist und weniger von gemeinsamen humanitären Werten und von Solidarität. Das Sterben an den Grenzen wurde und wird immer noch bewusst in Kauf genommen; legale Wege für syrische Flüchtlinge nach Europa gibt es bis heute kaum, ein Verteilmechanismus ist immer noch in weiter Ferne. Das alles kann einen als EuropäerIn nur zutiefst beschämen.

Was ging dir während dieser Reportage persönlich besonders nahe?

Viele einzelne Begegnungen und manche Bilder, die man nie vergisst: die Blicke der Kinder, die auf ihrer Flucht über das Meer gerettet wurden, oder die Männer, die fast daran zerbrochen sind, als sie erkannten, dass sie ihre Familie nicht mehr schützen können.Der Zaun - Dietmar Telser + Benjamin Stoess Thorsten Schneiders

Europa steht vor einem Dilemma: Bleiben die Grenzen geschlossen, kommen Flüchtlinge auf illegalem Weg unter lebensgefährlichen Umständen zu uns. Gehen die Grenzen auf, sind Regierungen und Länder schnell überfordert, wie die aktuellen Beispiele auf der Balkanroute zeigen, und der Rechtsextremismus vielerorts steigt. Es scheint keine Grauzone bei der Bewältigung dieses Problems zu geben. Wie schaut deiner Meinung nach ein konkreter Lösungsvorschlag aus?

In der Tat gibt es nicht diesen einen Lösungsansatz, es müssen sicherlich eine ganze Reihe von Maßnahmen getroffen werden: Kontingente, die zumindest Menschen mit hohen Schutzquoten einen sicheren Weg nach Europa ermöglichen, eine Intensivierung der Seenotrettung, eine gerechte Verteilung in Europa, um einzelne Länder zu entlasten, eine deutliche Verbesserung der Lebenssituation von Flüchtlingen in den Nachbarstaaten Syriens. Zudem muss die Bevölkerung in Europa früh und umfassend informiert werden, Verwaltungen müssen sich umstellen, flexibler reagieren, Wohnraum muss entstehen. Wir sind sicherlich gefordert, aber nicht überfordert. Wir haben im Übrigen auch keine Alternative. Wir können die Folgen der weltweiten Krisenherde nicht länger ausblenden und müssen uns der Verantwortung nun mal stellen.

Die EU investiert 70 Millionen Euro in Länder wie Marokko, um die dortigen Flüchtlinge an einer illegalen Einreise nach Europa zu hindern – deiner Meinung nach ein notwendiges Übel?

Das Problem ist nicht, dass Länder ihre Grenzen schützen oder Zäune bauen. Zum Problem werden die Maßnahmen erst, wenn es darüber hinaus keine legalen Wege für Menschen gibt, um einen Asylantrag zu stellen. Wir können nicht stolz auf unsere humanitären Grundsätze, auf unser Asylrecht sein, aber gleichzeitig alles unternehmen, damit Menschen nicht in den Genuss kommen, dies zu nutzen. Unabhängig von der Debatte, wem letztlich Asyl gewährt wird, müssen wir sicherstellen, dass die Menschen zumindest die Chance haben, dass ihr Antrag geprüft wird.

Vergleicht man die Situation der EU mit der von Libanon oder Jordanien, sind die Flüchtlingszahlen gemessen an der Gesamtbevölkerung verschwindend klein. Können wir mehr schaffen?

Es stehen sicherlich gewaltige Herausforderungen an. Flüchtlinge müssen nicht nur menschenwürdig untergebracht werden, sie müssen auch zügig integriert werden. Das wird eine riesige Kraftanstrengung, es wird nicht nur harmonisch ablaufen, und wir werden dafür auch etwas abgeben müssen: an Wohlstand und vermutlich auch an Sicherheit. Aber das ist das Mindeste, das wir den Menschen schuldig sind. Ich glaube, wir müssen auch aufpassen, dass wir die Lage nicht überdramatisieren. Mehr als 80 Prozent der 60 Millionen Flüchtlinge wurden im vergangenen Jahr noch von sogenannten Entwicklungsländern aufgenommen. In den vergangenen Jahren haben deutlich ärmere und fragilere Staaten diese Krise gemeistert. Niemand hat übrigens damals gefragt, ob diese Länder das schaffen. Es ist bitter, dass ausgerechnet europäische Länder am lautesten vor Überforderung schreien, wenn sie mit einem Teil der Flüchtlingsbewegung konfrontiert werden. Selbstverständlich schaffen wir in Europa mehr. Die Frage ist, ob die Mehrheit dafür bereit ist.Dietmar TelserWelche Schlussfolgerung hast du aus diesem Projekt gezogen? Hat es dich auf irgendeine Weise verändert?

Abgesehen von der moralischen Frage, glaube ich nicht, dass Zäune das geeignete Mittel sind, um Fluchtbewegungen zu stoppen. Schlepper sind sehr kreativ, wenn es darum geht, neue Fluchtrouten zu schaffen. Zäune können vielleicht die Zahl der Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen, vorübergehend verringern, aber langfristig werden sie Fluchtbewegungen nur umleiten. Die neuen Routen aber werden noch brutaler, kostspieliger und lebensbedrohlicher.

Du hast 2015 für deine Arbeit unter anderem den “Prof.-Claus-Gatterer-Preis” erhalten. Was bedeutet dir diese Auszeichnung?

Die Auszeichnung geht ja an das ganze Team, also auch an den Fotografen Benjamin Stöß und den Programmierer Thorsten Schneiders. Ohne sie hätte es die Reportagen so nicht gegeben. Claus Gatterer ist nicht nur für Südtiroler JournalistInnen ein großes Vorbild. Sein Mut, unbequeme Meinungen zu vertreten, sein Einsatz für die Menschen, die keine Stimme und keine Lobby haben, sein kompromissloser Journalismus überhaupt kennen keinen Vergleich. Davor habe ich größten Respekt.

Dietmar Telser wurde 1974 in Bruneck in Südtirol geboren. Er studierte in Wien, Göttingen und Hamburg Publizistik und sammelte erste journalistische Erfahrungen als Praktikant bei Der Standard und Kurier. Als Journalist tätig war er unter anderem für NÖN und ff – Südtiroler Wochenmagazin. Seit 2005 ist er Redakteur bei der Rhein-Zeitung in Koblenz.

Fotos: Benjamin Stöß

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