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November 27, 2015

Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele…?
“Amphitryon und sein Doppelgänger”

Maximilian Mayr
Mit der Kleistbearbeitung von Moliers "Amphitryon" feierte Regisseurin Karin Henkel 2013 einen fulminanten Erfolg am Schauspielhaus Zürich. Nun wurde das Ensemble vom Südtiroler Kulturinstitut für zwei Gastspielauftritte nach Bozen ins Waltherhaus eingeladen. franz war vor Ort und hat sich das Stück angesehen.

Henkels Inszenierung von “Amphitryon” oder “Amphitryon und sein Doppelgänger”, wie es bei Ihrer Adaption heißt, ist eine Verwechslungskomödie par excellence. Jeder scheint jeder zu sein und niemand er selbst. Kleists Stück erzählt in drei Akten die Geschichte vom titelgebenden thebanischen Feldherrn Amphitryon, der vom Feldzug gegen Athen heimkehrt und feststellen muss, dass seine Frau Alkmene die Nacht mit einem anderen verbracht hat, den sie für ihren Ehegatten hielt. Wie sich herausstellt, hatte Göttervater Zeus die Gestalt von Amphitryon angenommen um eine Liebesnacht mit der treuen Gattin des Feldherrn zu verbringen. Als folglich der müde Ehemann  nach fünfmonatiger Abwesenheit nach Hause kommt und Alkmene ihn mit den Worten “So früh zurück?” empfängt, da sie ihn ja erst letzte Nacht in ihrem Bett glaubte, bricht für Amphitryon eine Welt zusammen. Die Wirrungen und Zweifel um die Identität der Spieler können beginnen.  

Das Schicksal Amphitryons durchlebt auch sein treuer Diener Sosias, in dieser Inszenierung häufig von einer grandiosen Carolin Conrad gespielt, der im Götterboten Hermes seinen Doppelgänger findet und dadurch wiederum Probleme mit seiner Frau, Charis, bekommt – die mit Abstand lustigsten Szenen des Stücks. Wie bereits erwähnt, spielen die SchauspielerInnen häufig eine Figur im Stück, doch niemals ausschließlich. Jeder der fünf Mimen, die in dieser Inszenierung mit an Bord sind, schlüpft in mehrere Rollen bis sich schließlich weder die ZuschauerInnen noch die SchauspielerInnen selbst auskennen, wer nun wer ist. Die bereits zitierte Carolin Conrad ist zumeist Sosias, spielt aber auch Charis, ist Hermes und Alkmene. Marie Rosa Tietjen, die gleichermaßen Sosias, Merkur und Charis spielt, will dem Publikum gegen Ende hin gar weismachen, sie sei ihre Schauspielkollegin Caroline Conrad. – Der Irrgarten von Namen und Figuren ist perfekt. 

Bei den Herren, vertreten durch einen tanzbegeisterten Fritz Fenne und einen herrlich cholerischen Michael Neuenschwander, nimmt diese Rollenverteilung teils travestieartige Züge an: In Perücke, Kleidchen und Ballerina huschen die gestandenen Männer zur Belustigung des Publikums Grazien gleich über die Bühne. Als sich die Schauspieler schließlich zum Schluss des Stückes in ihrer definitiven Rolle zu erkennen geben, kauft man es ihnen nicht mehr ab und fühlt mit Alkmene, die bis zuletzt nicht verstehen kann, wer nun “ihr” wahrer Amphitryon ist. Da nur 5 Leute für ein 6-Personen-Stück engagiert wurden – die Rolle des Merkur, der Sosias imitiert, wurde einfach von allen übernommen – holt  Michael Neuenschwander am Schluss aber noch Kollege Wolfram Koch, samt seinem Teller mit Bockwurst und Kartoffelsalat, auf die Bühne, der kurz und scheinbar unvorbereitet den Götterboten gibt. Amphitryon © Matthias_Horn 02Eine der besten Leistungen an diesem Abend gilt aber jemand anderem: einer hervorragenden Lena Schwarz als Alkmene. Obwohl sie teilweise so schnell spricht, dass die eh schon schwer verständliche Kleistsche Sprache noch unverständlicher wird, ist sie doch die tragischste und dabei beeindruckendste Figur eines ohnehin beeindruckenden Ensembles. Die schleichende Gewissheit, sie habe mit jemand anderem als ihren Ehegatten die Nacht verbracht – hervorgerufen durch die offensichtliche Bezichtigung des Ehebruchs von Seiten Amphytrions und nicht zuletzt  durch ein Geschenk des Zeus nach der gemeinsamen Liebesnacht, einem Diadem, auf dem kein “A” für Amphitryon sondern ein “J” für Jupiter eingraviert ist – stellt sich bei Alkmene zwar langsam ein, ist aber dafür umso vernichtender. Bei Regisseurin Henkel erfährt Alkmene bis zuletzt nicht, wer nun der wahre Amphitryon ist, anders als im Original von Kleist. Stattdessen lässt sie ihre tragische Heldin verzweifelt mehrmals aus dem Fenster springen, ohne den gewünschten Erfolg.

Schwarz spielt die Alkmene dabei grandios: Sie weint, schreit, wirft ihr Haar mal nach hinten, mal nach vorn; ist mit ihrer prägnanten Stimme, die ein bisschen an Nina Hagen erinnert, mal schrill laut, mal bis zur Unverständlichkeit leise. Überhaupt ist Alkmene die weitaus interessanteste Figur. Während Sosias am Anfang und Amphitryon am Ende des Stückes sich nicht so schnell von ihren Doppelgängern überlisten lassen, – Zitat: “Ich bin noch immer Ich” –, definiert sich Alkmene über ihren Ehemann. Indem dieser nicht mehr der zu sein scheint, der er ist, verliert sie selbst ihre Identität und ist dadurch dem Verderben geweiht.

Die Inszenierung von Henkels Stück orientiert sich zwar sprachlich am Original von Kleist, wurde aber von der Regisseurin szenisch teils stark beeinflusst. Die Götter, bei Kleist noch die zentralen Elemente, die das Gefüge des Menschen außer Kraft setzen,  werden bei Henkel zu Randfiguren. – Die Figur des Zeus ist übrigens durchwegs vergleichbar mit der des Dorfrichters Adam aus Kleists bekanntesten Stück “Der zerbrochene Krug”, der auch in seiner (annähernden) Allmacht versucht das junge Glück von Eve und Ruprecht zu schänden. Es spielt letztlich keine Rolle, wer Gott und wer Mensch ist. Alle Figuren verlieren ihre Identität. Gar beim Stück selbst ist man sich zuweilen nicht sicher, sieht man hier eine Komödie oder eine Tragödie? Ganz im Gegenteil: Die Regisseurin vervielfacht die Doppelgänger, lässt Textstellen bis zur Zermürbung wiederholen. Der Unterschied zwischen Sein und Schein ist fließend. Gleich zu Beginn etwa, stürzen 5 Sosias’ nacheinander auf die Bühne und wiederholen die immer gleichen Anfangssätze, als ob jedes Mitglied der Bande einmal ausprobieren möchte, wie es nun so ist, diese spezielle Rolle zu spielen. Auch die schlichte Bühne selbst, die inszeniert von Henrike Engel mit einem Sessel und einer Lampe auskommt, sieht man streckenweise doppelt. Nicht etwa weil man sich im Vorfeld ein Glas zu viel an der Theaterbar gegönnt hat, sondern, weil ein Schauspielpaar ein anderes in gewissen Szenen spiegelgleich, in einem “oberen Stock” imitiert – als ob es nicht schon genug Verwirrungen gäbe. Auch die Kostüme von Klaus Bruns helfen uns bei der Identitätssuche nicht weiter: blaue Hemden, orange Kleider und nicht zuletzt Trenchcoats und Hüte in Bogarts Casablanca-Stil werden eilig gewechselt und verschleiern geschickt die Personalien der Figuren dahinter. Bei alledem zeichnet sich der Seitenhieb der Regisseurin auf eine Gesellschaft voller künstlicher Imagebildung via Facebook-Profil, Tinder-Account oder Online-Avatar überdeutlich ab. Wer sind wir, will sie fragen. Stimmt das Bild, welches wir nach Außen abgeben, noch mit der Realität überein? 

In “Amphitryon und sein Doppelgänger” hat Karin Henkel das bereits “von Natur aus” komplizierte Werk von Kleist in seiner Unübersichtlichkeit auf die Spitze getrieben, und man kann sich deshalb und vor allem wegen des zuweilen doch recht anstrengenden Vokabulars – ach! – den ein oder anderen Blick auf die Uhr nicht verkneifen.  “Amphitryon und sein Doppelgänger” ist sicher keine leichte Kost und nichts für einen gemütlichen und sorglosen Mittwochabend. Nichtsdestotrotz gelingt es Karin Henkel in beeindruckender Weise das Kleistsche Stück über Identitätskrise und Findung ins 21. Jahrhundert zu transportieren. Die fabelhaften SchauspielerInnen tragen dabei einen gewichtigen Anteil dazu bei. 

Als am Mittwochabend Mitte November die Lichter des  Waltherhauses nach einer Stunde und vierzig Minuten wieder angehen, sieht man unter den applaudierenden und “Bravo!” rufenden Gästen doch das ein oder andere verdutzte Gesicht oder, um es in den Worten des Herrn in der Reihe hinter mir wiederzugeben: “So a strenges Stickl hon i schun long nimmer gsegn!”. Nimmt man sich jedoch ein paar Tage Zeit, um die Identitätssuche der Figuren zu entwirren und darin einen tieferen Sinn zu suchen, wie es sich der Autor dieser Zeilen geleistet hat, kommt man auf folgende abschließende und alles entscheidende Frage und Schlussfolgerung zugleich, die diese Inszenierung  aufwirft: Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?

Foto: Matthias Horn

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