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September 18, 2015
MOUNTAIN SOUL Keine Aussicht am Vajolonpass
Anna Luther
Wie viel Frischluft verträgt ein Mensch und wie viele Aussichten sind nötig, um sich neue Visionen zu setzen? Aussichten legen den Blick frei auf vergessene Schönheit am Horizont, wo sich Berg an Berg in Wolken fängt und im Spiel des Lichts Farbe wechselt. Aussichten sind wechselhaft und unbeständig. Haben sich Wassertropfen in der Luft verfangen, ist der Vajolonpass bei der Rotwand in weiches, schummriges Licht getaucht.Aussichtslos der Frischluft ausgesetzt erinnert der Nebel schon fast an Wohnzimmeratmosphäre, die sich abends vor dem Fernseher einstellt. Statt von schnellwechselnden Bildabfolgen, in denen fremde Menschen es schaffen, unsere besten Freunde auf Abruf zu werden, lullen weiße Schleier die Gedanken ein. Visuelle Reize sind nur noch karg vorhanden und diese sollten ausreichen, um nicht zu stolpern. Was unzählige Filme in uns auslösen, ohne uns von der Couch zu trennen, hat auch die Natur drauf: Sie verzaubert – wird Protagonistin unseres Lebens, ersetzt uns in der anstrengenden Rolle der Hauptfigur, nimmt durch ihre Macht Entscheidungen ab. Beim Wandern, vielleicht auch beim Segeln oder anderen Sportarten, wird bewusst die Beziehung zur Natur gesucht. Und ihr freiwillig die Führung übergeben. Hingegen in von Kultur dominierten Gebieten, wie unser eigentliches Lebensumfeld, sind wir längst nicht mehr Witterung, Fauna und Flora ausgesetzt. Wie ein geschiedenes und zerstrittenes Ehepaar lebt jeder sein Leben und nur im Gericht oder bei Umweltproblemen kommt es zum konstruktiven Dialog mithilfe von Richtern oder Wissenschaft. Das Wandern sind die Flitterwochen mit Schmetterlingen im Bauch. Dies ist ein ins Groteske verzogenes Bild über unseren Umgang mit der Natur. Es stimmt nicht. Vielmehr sind Kultur und Natur vielleicht gar nicht mehr richtig auseinander zu halten und keine sich gegenseitig ausschließenden Begriffe.
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