MOUNTAINSOUL
Dem Tag zuvor kommen am Tschigot

Wo der Mensch im Kreislauf der Natur zu finden ist, bleibt mir noch unerschlossen. Gerade befindet sich einer dieser Spezies an einem steilen Hang, vom eigenen Willen zum Aufstieg verdonnert, zu Schweiß und Geduld getrieben. Das letzte Licht verliert sich in den hügeligen oder spitzen Horizonten, das Tal unverhüllt in seiner Zivilisation, verschwommene Bauten erinnern an weiche Betten und Stromanschluss. Doch die Biwakschachtel wartet – eine gelbe Kapsel aus Plexiglas mit Drahtgestellen als Betten und dünnen Matratzen. Fleißige BergliebhaberInnen haben Teebeutel, Salz und Zucker hinterlassen, sogar ein kleiner Gaskocher darf verwendet werden. Das Biwak wird diese Nacht Zufluchtsort vieler Menschen, Tisch und Boden werden zur Schlafstätte, zu unheimlich und wüst sind die Steinbrocken draußen vor der Nase.  Vier Uhr morgens, Handy-Wecker. Verschreckt und verschlafen folge ich zwanzig Minuten später grellen Stirnlampen im Nebel. Wir suchen im Takt nach weiß und rot gestrichenen Markierungen auf Stein. Gesprochen wird nicht viel – nur Wortfetzen begleiten die Konzentration.  Wir wollen den Sonnenaufgang am Gipfel des Tschigot erleben, dem Tag zuvor kommen, diesen unglaublichen Feuerball begrüßen. Es ist ein großes Gefühl, unserer Chefin in diesem empfindlichen Moment ihres Auftretens gegenüberzustehen. 

“Guten Morgen auch, liebe Sonne. Hab mir wegen dir heut noch nicht die Zähne geputzt, aber muss schon sagen, deine Leuchtkraft inspiriert.”

Fotos: Anna Luther