Meine Existenz ist eine Kerze

Zwischen den Zeilen #05: Von lyrischen Platzproblemen und anderen menschlichen Befindlichkeiten.

31.05.2015
05 Robin Vagale - Zwischen den Zeilen

“Meine Existenz ist eine Kerze, sie braucht sich auf und kreiert Feuer.”

Liebe/r W., 

als ich vor ein paar Tagen diesen Satz zu dir gesagt habe, hast du gefragt, wie ich ihn verstehen würde. Du meintest, der Satz lasse sich auf eine viel einfachere, wenn auch nicht so schöne Art sagen und sei somit nicht so aussagekräftig, wie ich ihn in den Raum gestellt hätte. 
Damit könntest du vollkommen richtig liegen. Viele Sätze, die wir sagen, bergen vermeintliche Weisheiten und Tiefe in sich, und sind doch auf viel einfachere Weise zu sagen, ja sogar zusammenzufassen. Sie haben in sich selbst keine Aussage und nur noch die Funktion, etwas anderes in ein schöneres Gewandt zu packen. Das “in das Gewandt gepackte” hat eine oft simple Aussage, von deren Einfachheit jedoch “abgelenkt” wird. Diese Sätze haben dann die Funktion den Sprechenden im besten Fall tiefsinniger oder intelligenter wirken zu lassen. Sie dienen also, wie auch Kleidung, Schmuck oder Besitz, zum Schmücken des Sprechenden. Ich möchte nicht sagen, dass die Einfachheit einer Aussage weniger bedeutungsvoll oder weniger wertig sein muss, sondern eher, dass es in diesem Fall sinnvoller wäre, den “Schmuck” wegzulassen und es auf eine einfachere Art und Weise zu sagen, weil dies ehrlicher und klarer wäre. 

Was ich mit dieser Abhandlung deutlich machen will, ist, dass der Satz “Meine Existenz ist eine Kerze, sie braucht sich auf und kreiert Feuer” nicht zu den oben beschriebenen Sätzen zählt. Der Satz ist nicht eine schmückende, beschönigende Art, etwas anderes auszudrücken, sondern er birgt in sich selbst eine Bedeutungsvielfalt. Worin besteht diese Bedeutungsvielfalt? Sie besteht in einer Unklarheit, die einen Denkprozess anstößt, in dem man mehr entdecken kann, als auf den ersten Blick, und der durch das Entdeckte zu einem besseren Verstehen oder zu einem Empfinden führen kann. Es ist nicht eine reine Interpretationssumme, die durch eine “leere Aussage” oder eine Plattitüde hervorgerufen wird. Es ist keine leere Hülle, die nichts bedeutet und mit Inhalt gefüllt werden muss. Diese Plattitüde lebt dann von ihrer Interpretation, also dem Inhalt, den man in sie hinein gibt. Der genannte Satz lebt aber aus sich selbst heraus, auch ohne Interpretation, durch die Bedeutung, die er in sich trägt und dem Gefühl oder dem Bild, das er hervorruft, oder eben durch den Denkprozess, den er anstößt. Dieser kann in Form einer Interpretation stattfinden, muss dies aber nicht, da es sich nicht um eine reine Funktion handelt, die der Satz erfüllt. Es liegt also an uns diese Bedeutung zu sehen, die er schon hat.

Dies gesagt, werde ich versuchen zu erklären, was ich in diesem Satz an Bedeutung sehen kann. Du meintest, dass der Satz darauf zu reduzieren sei, dass mein Leben endlich sei, ich aber trotzdem produktiv sein könne. Ich möchte hierbei anfangen, weil ich darauf eingehen möchte, dass hier von Existenz und nicht von Leben die Rede ist, und dass das eine Rolle spielt. Die Frage inwiefern sich Leben und Existenz unterscheiden, möchte ich hierbei unberücksichtigt lassen, da dies nicht mehr zielführend wäre und zu viel Platz einnähme.

Es reicht aus zu sagen, dass ein Unterschied in den Wörtern wahrscheinlich auch ein Unterschied in Bedeutung impliziert. In deiner Verwendung der Wörter können aber die beiden Wörter gleichbedeutend benutzt werden. Das ist zu berücksichtigen, denn auch das setzt etwas voraus. Es könnte ja auch sein, dass ich existiere, und dann lebe, oder ich lebe, und dann existiere, oder ich lebe, weil ich existiere, oder anders herum. Es könnte auch bedeuten, dass sie in keinem Zusammenhang stehen und dass mit den Wörtern etwas grundlegend Verschiedenes gemeint ist. Unabhängig aber von dieser Diskussion, ruft Existenz andere Assoziationen hervor als Leben. Die Existenz bedeutet, dass ich bin. Es ist also die Antwort auf die Frage, ob ich bin. In dem Satz wird des Weiteren auch nicht nur gesagt, dass ich bin, sondern, was dieses “dass ich bin” ist. Er sagt, was meine Existenz ist. Also, nicht was das ist, was ich bin, sondern was das ist, dass ich bin. Und dies ist in diesem Fall eine Kerze. Es ist hierbei nicht nur von Vergänglichkeit und Produktivität die Rede, sondern von einer Kerze. Die Vergänglichkeit ist hierbei ohne Zweifel ein bedeutender Punkt, aber eben nicht nur, und auf eine andere Art und Weise als der, dass mein Leben vergänglich ist und ich trotzdem produktiv sein kann. Ich bin nämlich auf dieselbe Weise vergänglich wie eine Kerze. Die Kerze ist überhaupt erst “produktiv”, indem sie vergeht. Sie ist überhaupt erst, dadurch dass sie vergeht. Das Vergehen selbst stellt das Kernelement dar: Nicht trotz Vergänglichkeit kann sie sein, sondern weshalb sie überhaupt erst sein kann, ist das Vergehen und ermöglicht ihr “etwas zu schaffen”. 

Was bedeutet das für die menschliche Existenz? Erst durch unsere Zeitlichkeit, erst durch unser Vergehen, durch unsere Endlichkeit sind wir überhaupt. Ich muss vergehen, ich muss verschwenden, um zu sein. Das ist das erste, das ich in dem Spruch sehe: Er sagt, dass ich vergehen und mich verschwenden muss, um zu sein. 
Er geht des Weiteren noch auf die Art und Weise des Vergehens ein: Eigentlich nicht ein Ver-Gehen, sondern ein Verbrennen. Die Kerze verbrennt und schafft Feuer. Das heißt, ich schaffe nicht nur durch mein Vergehen Feuer, sondern ich werde selbst zum Feuer und darin besteht mein Vergehen, aber gleichzeitig auch mein Entstehen. Auf die besondere Beschaffenheit des Feuers möchte ich hier jetzt nicht weiter eingehen. Vielleicht weißt du besser, was dein Feuer ist. 

Ich freue mich auf deine Antwort.
R.

Foto: Robin Vagale

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