Culture + Arts > Cinema

April 24, 2015

Der Ärger mit dem Erbe. HomeGrown triple Review

Marianna Kastlunger
Tradition ist manchmal ein Luder. Vor allem wenn sie null Flexibilität ermöglicht. Wer den Weg der Rebellion geht, erntet Spott und Hohn, aber vielleicht auch Lob und Ehre. Drei Filme im Wettbewerb der Bozner Filmtage liefern drei unterschiedliche Perspektiven auf die Krux mit dem Erbe der Väter.

Amüsierend – Titos Brille

Titos Brille ist der Titel des biographischen Romans von  Die Schauspielerin und Theaterregisseurin (u. a. Vagina-Monologe) lebt in Berlin. Regina Schilling ist Filmemacherin und Freundin Altaras. Sie hat die Romanvorlage filmisch erweitert, und sie in einem witzigen Roadmovie mit Tiefgang portraitiert. Adriana Altaras’ Familie stammt nämlich aus dem ehemaligen Jugoslawien, ihre Eltern waren jüdische Partisanen. Sie kämpften für Tito, flohen aber später nach Deutschland. Altaras lebt mit ihrem deutschen Ehemann und zwei Söhnen in Berlin. Aber die “dibbuqs”, die Geister ihrer Vorfahren, verfolgen sie. Auf Empfehlung der Astrologin ihres Vertrauens beschließt sie, sich einer “Aufarbeitung” ihres kulturellen Erbes zu stellen. Aber wie stellt man sowas überhaupt an? Ein kulturelles Erbe zu entwirren ist gar nicht so einfach: Die überlieferten Legenden ihres heldenhaften Vaters waren wohl auch eine clevere Tarnung, um nicht familientaugliche Geheimnisse zu vertuschen. Regina Schilling begleitet Altaras auf einer Reise an jene Orte, die nicht nur Geschichte geschrieben haben, sondern auch das Leben ihrer Familie entscheidend mitgeprägt haben. Sie pilgert also von Berlin nach Gießen, an den Gardasee, nach Zagreb, Split und auf die Insel Rab. Aber statt die Geister zu vertreiben, kommt noch der “dibbuq” von Tito dazu. 

Die Krux mit dem Erbe: Gut möglich, dass eine Überdosis Vergangenheit auch schmerzhaft ist. Aber mit anzusehen, wie Altaras lernt mit ihnen zu leben, ist auch ein sehr spaßiges Vergnügen. 

Highlights:
Der Humor.
Der ältere Sohn ist so jüdisch erzogen, dass er den Vater mit “Der Deutsche” beschimpft.
Der Soundtrack. “Die Auswahl der Lieder wurde nicht dem Zufall überlassen,” verrät Regina Schilling. Domenico Modugnos “Vecchio frac” war beispielsweise das Lieblingslied von Adrianas Vater. Oder “Willst du mit mir gehen” von Daliah Lavi, israelischer Filmstar und Sängerin, die auch auf Deutsch sang. Und dann noch “Bella Ciao”, das wie ein roter Soundfaden durch den ganzen Film führt. 

Inspirierend – Brenna tuat’s scho lang

Hubert von Goisern heißt so, weil er seinem Heimatort eins auswischen wollte. Denn so richtig verstanden und akzeptiert hat er sich dort eigentlich nie gefühlt. Im kleinen Kurort, wo zwar immer zur Ruhe gemahnt wurde, da sich ja die Gäste erholen müssen, gab es dennoch, sage und schreibe, sieben Musikkapellen. SIEBEN! Ein gefundenes Fressen für den Musik affinen Hubert? Ja und nein! Denn die starren Regeln der Volkstumspflege empfand er bald als zu einschränkend, vielleicht auch als paradox. Denn wie kann Volksmusik dem Volk gehören, wenn das Volk sich in ihr gar nicht kreativ austoben kann? Hubert gibt nicht klein bei und zieht sein Ding durch. Marcus H. Rosenmüller zeigt den Werdegang “seines Idols”, inklusive sehr brauchbarer Lebensweisheiten (“Verschwender sind besser als Geizkragen”) und vielem Live-Material. Die Krux mit dem Erbe: Hubert von Goisern hat was gegen die Manipulation von Tradition, wie sie etwa während der Nazizeit geschah, oder Jahrzehnte später im Musikantenstadl. Er sieht Volksmusik ganz unoriginell als völkerverbindende Sprache, meint dies aber nicht als leere Floskel und jammt sich durch alle Kontinente. 

Highlights: Videoausschnitte eines Auftrittes in Austin, Texas, Anfang der Neunziger. Zusammen mit den Alpinkatzen rappt Hubert den “Wildschütz Rap”, die Menge tobt. Und nennt das Ganze “Alpine Grunge”. Aber mit Fragezeichen.
Oder: Volksmusik meets Punk. Cover-Versionen von Nationalhymnen provozieren, vor allem wenn sie so gehen:Schockierend – Vergine Giurata 

Eine Szene, die sich in den Albanischen Bergen abspielt: Zwei Mädchen begleiten ihre Mutter auf dem holprigen Weg nach Hause. Sie treffen eine Hochzeitsgesellschaft, die still und andächtig zu Fuß auf dem Weg zur Trauung ist. Die Braut sitzt auf einem Esel, ihr Gesicht ist unter einem weißen Schleier bedeckt. Feierstimmung sieht anders aus. Eines der Mädchen fragt, warum die Braut nichts sehen dürfe? “Wenn sie den Weg nicht weiß, kann sie auch nicht zurück.” Klingt nicht nach großer Liebe. Und sobald Lila im heiratsfähigen Alter ist, will ihr Vater eine Ehe arrangieren. Die frohe Botschaft kündigt er ihr mit einer Patrone an. Die soll der Ehemann einsetzen, falls die Frau nicht pariert. Kein Wunder dass Lila abhaut. Ihre Cousine Hana, die seit dem Tod ihrer Eltern bei Onkel und Tante lebt, bleibt zurück.Die Krux mit dem Erbe: Hana kann mit einem Gewehr umgehen, wird regelmäßig ob ihren klassisch männlichen Hobbies gemobbt, darum flieht sie in einen anderen Wertekodex: Sie schwört ewige Jungfräulichkeit, heißt ab sofort Mark, und darf mit den anderen Männern nun Raki saufen. Diese und andere Szenen, die den Umgang mit Mark darstellen, sind ziemlich krass und machen fassungslos. Als ihre Zieheltern sterben, zieht sie zu ihrer Schwester. Diese lebt mit ihrem Mann und ihrer Teenager-Tochter in einer nicht spezifizierten Stadt in Italien. (Ein SAD-Bus weist aber ziemlich genau auf die Region hin.) Hier will sie sich langsam aus den Fängen der Tradition befreien. 

Highlights: Die karge Winterlandschaft Albaniens spiegelt das vermeintlich gefühlskalte Familienleben der Protagonistinnen wieder. Und: Wenig Dialoge machen die Stimmung noch bedrückender.
Lilas Tochter Ionida ist nicht nur Synchronschwimmerin, sie weist auch Mark/Hana in puncto Selbstfindung ein. Und empfiehlt einen schwarzen Spitzen-BH. Hanas verspätetes “coming of age” kommt aber trotzdem ohne Hässliches-Entlein-Klischees aus. Die Derbheit reicht vollkommen. 

Print

Like + Share

Comments

Current day month ye@r *

Discussion+

There are no comments for this article.