Asche und Staub
Zwischen den Zeilen #04: Von lyrischen Platzproblemen und anderen menschlichen Befindlichkeiten.

An einem schwülen Sommertag setzte ich mich ans Ufer eines Flusses in der Nähe meines Wohnortes. Mein Wohnort war derzeit das Auto, deshalb musste ich nur wenige Schritte gehen. Am Abend davor hatte ich mich in einer kleinen Bar mit Wein sachte berauscht. In dieser komischen Bar, wo nur drei, je nach Körperumfang auch vier Leute reinpassen, lief eine Reportage über Vögel. Ich kann mich noch an den einen Satz erinnern: „Über den Dächern fliegt die Blaumeise.“ Ich wusste nicht, ob ich das poetisch oder traurig finden sollte. War die Blaumeise ein glückliches Tier, weil sie über die Dächer fliegen konnte? Oder war sie die Melancholikerin unter den Meisen? Die Meise mit dem Blues. Oder der Blues mit einer Meise. Lustig. Der Freejazz der Vögel. Wer sich den Namen für die Blaumeise ausgedacht hat, muss auf jeden Fall eine Vorliebe für Sprache und einen geht-so Humor gehabt haben. Namenstechnisch eher so Niveau Axel Schweiß, oder Carmen Bär. Am nächsten Tag, an diesem Fluss, wusste ich immer noch nicht, ob es jetzt traurig oder poetisch ist. Vielleicht auch einfach beides. Oder „einfach nur albern“ darüber nachzudenken. Für den bürgerlichen Humorgeschmack, der auch mir ansozialisiert wurde, ist so was ja „einfach nur albern“. Schon der Gedanke an meine Blaumeisenassoziationen beschert mir ein langes Köcheln in der Hölle des guten Geschmacks der Bourgeoisie. Jedenfalls könnte ich heute keine Blaumeise mehr erkennen. Trotz dieser komischen Reportage.
Ich hatte einen seichten Kater. Nicht einen schwitzigen Schnapskater, bei dem einem nach drei Tagen noch immer Whisky aus den Poren quillt. Auch keinen Bierschädel mit pochendem Bierherz, bei dem das Hirn langsam in einem warmen Schaumbad aufgeweicht wird. Nein, einfach einen leichten, beruhigenden Rotweinkater, bei dem man merkt, dass bei einen Glas mehr das Ganze in einen Fusel-Rotwein-Kater hätte umschlagen können, aber das ist nicht passiert. Stattdessen scheint die leichte, beruhigende Wirkung des Rotweins noch in den nächsten Tag überzugehen. Eine angenehme, neben-sich-stehende Trägheit breitet sich im Körper aus. Jedenfalls hatte ich im Ort ein Eis gekauft. Es war eine Sorte, für die es keine Übersetzung ins Deutsche gibt: Fior di Latte. Oder wie sagt man das auf Deutsch? Kulturell wohl einfach zu weit weg von der Lebenswelt von Blaumeisendichtungen wie meiner. Jedenfalls liebe ich Fior di Latte. Ich weiß nicht, ob ich es von manchem Vanilleeis unterscheiden könnte, wenn man mir es nicht sagen würde. Aber es ist „auf jeden Fall was ganz anderes“, wie alle immer ganz genau wissen. Als ich mich auf eine Mauer am Rand des Flusses setzte, fiel die Kugel herunter, ein kurzer Schreck und es war vorbei. Ich hätte zurückgehen können und ein neues kaufen können, doch es wäre nicht dasselbe gewesen. Ich saß also da, ohne Eis, und musste mich ohne sinnliche Stimuli beschäftigen. Der Fluss war wohl eher öde, sodass es nicht viel zu sehen gab.
Komisch, wie es wäre wenn es nicht wäre. Du meintest mal, dass es besser wäre, wenn es nicht wäre. Dann wäre all das gespart, was scheiße ist. Was man alles vermeiden könnte: Die müden Augen am Sonntagmorgen. Die Schrebergärten- und Vorgartenkriege, den Liebeskummer, die Schmerzen in der Brust. Was man sich alles sparen könnte: Die Sorgen und die unnötige Energie. Oder so was wie Mundakupunktur und Ohrenkerzen. Das Ecklo-Essen, was man sich nur gegen das Loch im Bauch reinschiebt oder die kritischen Blicke der Sitznachbarn im Restaurant, weil du deine Gabel nicht in der linken Hand halten kannst. Oder auch den Schnapskater. All die Kleinigkeiten, die dann letztendlich so viel ausmachen, könnte man sich sparen. All die Asche und den Staub müsste man nicht wegkehren. Denn all die Asche und der Staub wären gar nicht entstanden. Keine Flamme hätte sie angezündet. Kein Fuß sie aufgewirbelt.
Die Flamme in uns würde erst gar nicht brennen. Wie traurig das wäre, wenn die Flamme erloschen wäre. Auf jeden Fall nicht poetisch.
Denn, was man alles verpassen würde. Das sanfte Plätschern des Flusses vor mir, den ersten Zug an der Zigarette, wenn man länger nicht geraucht hat. Die Sonnenstrahlen, die dazugehörigen Auf- und Untergänge, die Aufregung und Neugierde, wenn etwas Neues beginnt. Der erste und der letzte Kuss. Das Zittern der Augen von Leuten, die in der Bahn aus dem Fenster schauen. Der Geschmack von Fior di Latte, vorausgesetzt, es kackt keine Blaumeise drauf.
Es war ein ruhiger Tag, an dem ich einfach mal unbeschwert durch die Gegend streifte. Zu meiner Verwunderung hatte ich keine Lust, den Gedanken mit „Was wäre, wenn“ und dem „Wäre es besser“ weiter durchzudenken, weiterzudenken, überhaupt zu denken. Vielleicht wäre wieder das Gewicht im Bauch und Kopf aufgetaucht. Vielleicht waren mir meine Gedanken auch einfach zu kitschig. Wie dem auch sei, ich stand auf und kaufte mir ein neues Eis. Vielleicht wäre es besser gewesen, erst gar kein Eis zu kaufen, ich hätte einiges verhindern können. Vielleicht hätte ich aber auch gleich zwei Kugeln kaufen sollen. Dann wär nur die obere abgefallen. Oder gar keine, weil ich besser aufgepasst hätte. Es ist müßig.