Großstadt-Astronauten

Zwischen den Zeilen #02: Von lyrischen Platzproblemen und anderen menschlichen Befindlichkeiten.

30.01.2015
02 Robin Vagale - Zwischen den Zeilen

Ein kleiner Entwurf auf einem Stück Papier. Kleine Zeichnungen, Skizzen und Beschriftungen. Wortfetzen. Irgendwo zwischen dem kleinen Paradies und dem großen Abenteuer, zwischen “so will ich sein” und “so will ich nicht sein”. Und irgendwo zwischen dem kleinen und dem großen Glück. 

Nicht mehr als ein Entwurf, ein Prototyp. Eine durchgestrichene mathematische Formel. Daneben das Wort “Glück”. Daneben ein Pinselstrich umrahmt von zwei mit dem Zirkel gezeichneten Kreisen, geschmückt von Rotwein und Kaffeeflecken. 

Ein Entwurf, eine Straße, ein Weg – befahren und entstanden durch das Gehen des selbigen. Ein kleines Werk am Ende der Straße. Ein Kunst-Werk. Ein Lebens-Kunst-Werk. Ein schräges, komisches Gebilde, einem Hundertwasserhaus gleichend. Davor hat einer sein Zelt aufgeschlagen, schaut kurz hinaus und sieht, was vor ihm steht. Er packt die Skizzen ein, das Zelt zusammen und zündet das Kunstwerk an. Sein Lebenswerk. Sein Lebenskunstwerk. An seinem linken Auge zittert sanft eine Träne. Und dann geht er los. 

“All change is a miracle to contemplate”, hat er auf seinen Unterarm tätowiert. Und während er so alles abreißt, an den immer gleichen Lebenswerkhäusern seiner Nachbarn vorbei läuft, ihnen Leb-Wohl wünscht, denkt er an ebendiese, und merkt, dass sie einem anderen Motor, vielleicht einem stetigeren, aber weniger kraftvollen Motor folgen. Und dass das, was für sie Leben heißt, für ihn einen kleinen Tod bedeutet. 

Sie, eine Großstadtastronautin. Durchdringt die großen, stetigen Großstadtsonnensystemsbahnen, in denen sich die Plastikplanetenmenschen Tag für Tag bewegen. Durchdringt die Regeln und die Normen, die Verhaltensmuster und die Anonymität. Wirft fremden Menschen ein “Bonjour, monsieur!” zu und entfacht in dem einen oder anderen Großstadtcowboy ein wenig Hoffnung auf ein Leben, das von Liebe und nicht von Einsamkeit geprägt ist. 

Sie missachtet die Verkehrsregeln, fährt bei Rot, schneidet Touristen den Weg ab und überholt zwischen parkenden und wartenden Autos mit einem gekonnten, schlängelnden Manöver. Sie fährt ohne Helm, lebt ohne Krankenversicherung. Ohne Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Nur mit der Hoffnung auf ein bisschen mehr Leben an diesem, am heutigen Tag. Und das Wissen, dass sie es ist, die darüber entscheidet, wie viel Leben in dem heutigen steckt. 

“Hauptsache kein Tag wie der andere” hat sie über ihr Bett geklebt. Und während sie in einem Straßencafé sitzend sich eine Zigarette anzündet, denkt sie daran, dass gerade in diesem Moment, an einem anderen Moment, auf einem anderen Kontinent – doch für sie scheint es wie ein anderer Planet – die Börse schließt. Und ihre Schwester gerade von einem dieser Gebäude nach Hause läuft. Ihr Glück von einem +50 oder –20 abhängig macht. Ihre Welt, ihr Leben, ihre Zeit mit Zahlen anstatt mit Leben füllt. Und die Frage nach dem Sinn, anstatt mit einem Sein mit einem Haben beantwortet hat. Und dass das, was für ihre Schwester Leben heißt, für sie einen kleinen Tod bedeutet. 

Und in einem Zug Richtung Ich-weiß-noch-nicht-Wohin ein kurzer Blick. Zwischen Coolness und Stolz, zwischen Weitergehen und Stehenbleiben. Zwischen Nichts und niemand brauch ich jetzt und hier, bleibt der kurze Gedanke, dass aus dem, was für beide Leben heißt, ein Leben werden könnte. 

Foto: Robin Vagale

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