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December 17, 2014

Vom Kapitalismus zum Spekulationswahn – eine Leseempfehlung

Greta Sparer
Kapitalismuskritik ist wieder in. Was der Mainstream im Zuge der Wirtschaftskrise neu entdeckt, gab es schon vor Marx – vermutlich schon, als die ersten italienischen Kaufmannsfamilien angefangen haben: Kapital anzuhäufen. Aber trotz aller Kritik konnte sich bis heute keine Alternative langfristig erfolgreich gegen das kapitalistische System durchsetzen. Die 69. Ausgabe der GEO Epoche zum Kapitalismus gibt eine die Jahrhunderte übergreifende Einführung in die Anfänge, die Hochzeit und vor allem in die Krisen dieses beständigsten Wirtschaftssystems aller Zeiten.

 

Der Kapitalismus ist und war in der Meinung vieler der Treiber für den menschlichen Erfindungsgeist. Aus der Not, sich selbst und das eigene Unternehmen immer über Wasser zu halten, leitete schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter die viel zitierte “schöpferischen Zerstörung” ab: Das Alte wird durch das Neue verdrängt und irgendwann ist die Lebensdauer eines Unternehmens schlicht vorbei. In der heutigen Zeit heißt das: Nur wer ständig mithält, sich ständig erneuert und Innovationen schafft, kann weiterbestehen. 

Inwiefern das mit ständigem Wachstum gleichzusetzen ist, ist eine andere Frage, die sehr kontrovers diskutiert wird. (Wikipedia eignet sich als kleine Einführung, aber die Wachstumsdebatte selbst wird eindeutig wertend und kurz abgehandelt, ohne die Kontroverse zu berücksichtigen, beispielsweise, dass wirtschaftliches Wachstum langfristig, sozial und ökologisch nur möglich ist, wenn nicht-nachhaltige Bereiche zurückstecken. Zum Beispiel könnte man in der Rüstungsindustrie abbauen und in die Bildung investieren. Zum “balanced de-growth” empfehle ich Christian Kerschners Artikel “Economic de-growth vs. steady-state economy” aus dem Jahr 2010.)

In GEO Epoche Nr. 69 wird der Kapitalismus beginnend von seinen Anfängen bei den italienischen Kaufmannsfamilien des 14. Jahrhunderts nacherzählt. Das Kapitalanhäufen der Italiener vergrößerte die Märkte, was letztlich die Agrarwirtschaft in den Kapitalismus mit hineinzog. Die ersten Darlehensgeschäfte von Banken gab es übrigens schon im 13. Jahrhundert, die erste Börse in den Niederlanden im 16. Jahrhundert. Im 17. Jahrhundert begannen die Börsenspekulationen.
Im 18. Jahrhundert, Schlagwort industrielle Revolution, geht’s dann richtig los mit dem Kapitalismus, wie man ihn noch heute liebt und hasst: Neue Erfindungen für effizientere Warenproduktionen lösen sich im Eiltempo ab, das Bürgertum wird immer reicher, Arbeiter und Arbeiterinnen strömen in die Fabriken. Der Kapitalismus durchdringt alle Schichten und wird in weit mehr Bereichen bestimmend, als nur in der Produktion und auf dem Markt, jetzt zum Beispiel auch im gesellschaftlichen Leben und in der demographischen Entwicklung – Stichwort Landflucht (soweit bis inkl. Seite 55).

Spätestens im 19. Jahrhundert ist die Kapitalismuskritik unüberhörbar, als Karl Marx das Wort ergreift (S. 56–73). Trotzdem hat Marx vorläufig keinen Erfolg, zumindest nicht in den USA, wo der Erdölmonopolist Rockefeller Ende des 19. Jahrhunderts einem religiös anmutenden Kapitalismuswahn verfällt und damit den Grundstein für den enormen Machtausbau der Großunternehmen des 20. und 21. Jahrhunderts legt (S. 74–89). Das böse Erwachen kommt für viele mit der großen Depression der 1930er (S. 90–103). In Deutschland wird zwischen den 1960ern und der Finanzkrise von 2007/2008 die soziale Marktwirtschaft geschaffen, wieder verworfen und vielleicht wiederentdeckt (S. 104–105); in den 1980ern sitzt die Neoliberalistin Margaret Thatcher in Großbritannien den Streik der Kohlearbeiter aus (S. 106–121); ab den 1990ern hebt die Globalisierung ab (S. 122–125) und schlussendlich taucht er auf – der uns derzeitig größte Dorn im Auge: der entfesselte Finanzkapitalismus von den 1980ern bis heute (S. 126–129). 

Der Artikel “Im Zeitalter der Gier” (S.126–159) setzt bei den Ursprüngen des computergestützten Finanzkapitalismus an den Börsen an, als das Hin- und Her-Schieben von Finanzflüssen (also von Geld, das vielleicht gar nicht vorhanden ist) sich derart beschleunigt hat, dass die New Yorker Börse 1987 beinahe in einer Abwärtsspirale versunken wäre. Abgefedert hat den Absturz die amerikanische Notenbank, die FED, indem sie Geld ins System pumpte (damit fallen die Zinsen, Unternehmen können mehr investieren, und Geld in Aktien zu stecken ist nun auch für Private attraktiver, als niedrig verzinste Staatsanleihen oder Ähnliches zu kaufen). Von da an sind sich alle sicher, dass – was auch immer sie anstellen, wie viel Risiko sie auch eingehen werden – die FED es schon richten und den Markt nicht zusammenbrechen lassen wird. Der Finanzmarkt wird zunehmend unübersichtlicher: Finanzprodukte in phantasievollsten Ausführungen – Risikoabsicherungen, Termingeschäfte, Options, Swaps etc. – machen es teilweise unmöglich, nachzuempfinden, wer wem Geld schuldet und wie hoch folglich das Risiko für die Einzelnen ist.
Ermöglicht werden diese Auswüchse durch eine liberale Wirtschaftspolitik in den USA, wo der freie Markt unantastbar und alles dem (angeblich vollkommenen) Wettbewerb unterworfen ist. So ist es im computergestützten Finanzhandel möglich, dass Wertpapiere im gewöhnlichen Tagesgeschäft von auf High-Frequency Trading (HFT) spezialisierten Firmen innerhalb weniger Augenblicke vielfach den Besitzer wechseln und die Trader so täglich mit Millionenbeträgen herumjonglieren. Beim HFT sitzt kein Mensch mit der Hand auf der Maus vor dem Bildschirm; die Kauf- und Verkaufssysteme laufen über Algorithmen, die Trends erkennen und sie blitzschnell reagieren lassen, wenn eine Chance auf Gewinn, meistens nur wenige Cent pro Aktie, zu erwarten ist. Diese paar Cent pro Aktie summieren sich durch die enorm hohe Anzahl an täglichen Deals. Aber es gibt keine Gewinner ohne Verlierer, die Trader liefern sich ein Rennen, das im Artikel mit Schach verglichen wird: Manche Tradingprogramme verteilen einen Großauftrag beispielsweise auf mehrere Börsen, damit die Aktienpreise nicht abrupt ansteigen. Andere Tradingprogramme erkennen diese versteckten Großaufträge wiederum, sehen die verzögerte Kurssteigerung voraus und berechnen, worauf gesetzt werden sollte. Trotz der Finanzkrise von 2008 geht dieses Spiel bis heute weiter. 

Wenn ihr wissen wollt, wie sich die großen amerikanischen Investmentbanken (z. B. Lehman-Brothers) damals aufgeführt haben und wie diese, die amerikanische Geldpolitik der FED und die Gesetzeslage in den USA in diese Krise geführt haben, empfehle ich euch jedenfalls diesen Artikel in Geo Epoche. Ich garantiere euch schwindelerregende Geldbeträge, die mit der Realwirtschaft, also allem, was produzierend und dienstleistend ist, wenig zu tun haben. 

Der Artikel endet mit einer interessanten Überlegung: Der Kapitalismus sei eine Technik, keine Ideologie und habe daher nichts mit Moral zu tun. Außerdem sei er beständiger und effizienter als jede andere Wirtschaftsform in der Geschichte. (So etwas Ähnliches sagt auch Fred Luks). Der Kapitalismus sei also weder gut noch böse, er fördere den Wohlstand, sei aber auch gefährlich. Erst in der Ausführung komme die Moral ins Spiel, die fragt: Wie soll der Wohlstand verteilt werden? Und wie können wir den Kapitalismus bändigen? 

Für eine filmische Einführung in die Finanzbranche und die Zusammenhänge in der Weltwirtschaft empfehle ich die Dokumentation “Let’s make money” von Erwin Wagenhofer aus dem Jahr 2008.

Literatur: Der Kapitalismus. GEO Epoche. Heft 69 (10/2014). – Die GEO Epoche, das Geschichtsmagazin von GEO, erscheint mehrmals pro Jahr und widmet jede Ausgabe der historischen Betrachtung eines bestimmten Themas.

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