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November 4, 2014
Du wohnst falsch! “The Wounded Brick”
Kunigunde Weissenegger
Im August 2014 hat Portugal den Film in seinen offiziellen Beitrag zur Architektur Biennale in Venedig aufgenommen. Seine Weltpremiere hatte “The Wounded Brick” im März 2013 im moviemento-Kino-Berlin in Kooperation mit dem Deutschen Architekturzentrum (DAZ). Seither haben die beiden RegisseurInnen Sue-Alice Okukubo und Eduard Zorzenoni ihren Film international, aber hauptsächlich deutschlandweit in Arthouse- und Kommunalkinos gezeigt. Okukubo und Zorzenoni sind zwei unabhängige FilmemacherInnen, die die deutsch-österreichische Filmproduktion mediart01 films leiten. Ihr Schwerpunkt liegt auf Filmen mit künstlerischem Anspruch, besonders im Themenbereich Architektur, die jedoch nicht nur an “Fachleute”, sondern an alle Menschen gerichtet sind.
The Wounded Brick ist ein Filmessay über Visionen, Hoffnungen und Scheitern bei der Suche nach menschengerechtem Wohnen im Kampf gegen wirtschaftliche und politische Interessen. Die Filmemacher Sue-Alice Okukubo und Eduard Zorzenoni treffen auf Architekten, Stadtplaner, Soziologen und Betroffene des Erdbebens 2009 in den italienischen Abruzzen. Die persönlichen Erfahrungen der Erdbebenopfer und die Zerstörung ihrer Städte und Häuser verstehen sich hierbei als konkretes Beispiel sowie als Metapher. Landschaften, Stadtbilder und Wohnsituationen werden zum Protagonisten, mit denen der Mensch interagiert. Alle Gespräche und Bilder verdichten sich assoziativ zu einer poetischen Reflexion: Wem gehört die Stadt? Wie wollen wir wohnen? Was macht einen Ort zum Leben aus? Ein Gespräch mit Sue-Alice Okukubo und Eduard Zorzenoni über verwundete Häuser und Menschen, die Frage der Gestaltung von Lebensräumen, Architekturfilme für alle, die mensch nicht bloß konsumiert, und ArchitektInnen, die sich wieder daran erinnern, an die kleinen Dinge zu denken.New Towns – Filmstill “The Wounded Brick ”
Euer Film trägt den Titel “The Wounded Brick” – eine etwas ungewöhnliche Wahl für einen “Architekturfilm”. Warum dieser Titel? Wie kam es dazu?
Sue-Alice Okukubo und Eduard Zorzenoni: Der Titel hat mehrere Sinn-Ebenen: “Brick”, also übersetzt “Baustein” oder “Ziegelstein”, steht für das grundlegende (Bau-)Element eines Hauses und in weiterer Folge einer Siedlung, eines Ort oder einer Stadt. “Wounded”, also “verwundet/verletzt”, steht für die menschliche Ebene. Man würde einen Stein mit einem Riss normalerweise ja nicht als “verwundet” bezeichnen. Der Titel verweist also auf eine beeinträchtigte Beziehung zwischen den Menschen und ihren (Lebens-)Orten bzw. der Gestaltung derselben.
Wir haben im Film nicht nur die Entwerfer von Wohn- und Stadtraum, also Architekten, Stadtplaner und Soziologen, zu Wort kommen lassen, sondern auch – und ganz besonders – die “normalen” Menschen, mit ihren Bedürfnissen und Vorstellungen. Als konkretes Beispiel als auch als Metapher kommen Opfer des Erdbebens in den Abruzzen zu Wort. Für diese Menschen ist die Frage nach der Bedeutung und (Neu-)Gestaltung von Lebensorten radikal erfahrbar geworden. Es war interessant und berührend, wie oft sie von ihren “verwundeten” Häusern und Städten gesprochen haben. Auch dieses emotionale Bild und diese Erfahrung hat uns zu diesem Titel gebracht.
Wir möchten noch anmerken, dass wir keinen ausschließlichen Architekturfilm machen wollten. Wir finden, dass die Thematik des Films praktisch jeden betrifft, und wir würden mit den Erzählungen in “The Wounded Brick” gerne möglichst viele Menschen erreichen und inspirieren.Earthquake victim Giancaterino – Filmstill “The Wounded Brick”
Von welcher These seid ihr am Anfang eures Filmprojektes gestartet? – Wie hat sich euer Blick im Laufe der Filmarbeiten verändert?
In den letzten Jahren haben wir im Zuge der Recherchen zu unseren Filmprojekten mit zahlreichen Architekten über Themen und Fragestellungen für Architekturfilme gesprochen. Interessanterweise kam das Gespräch nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, auf großartige Bauten, die man filmisch portraitieren könnte, sondern ein Thema, das immer wieder aufkam, war die Frage der Gestaltung von Lebensräumen für die Menschen. Deshalb ist “These” vielleicht nicht das richtige Wort. Wir hatten keine These, wir hatten eine Menge Fragen. Durch die Recherchen kristallisierten sich einige Grundfäden und Verläufe heraus, die schließlich zur Konzeption unseres Filmes führten; Ausgangspunkte, Philosophien, Visionen…
Uns wurde auch immer mehr klar, dass wir von dieser großen Vielfalt an kreativen Prozessen erzählen möchten, von der Suche nach dem Unmöglichen im Möglichen – und zwar ungeachtet dessen, ob die Projekte erfolgreich umgesetzt werden konnten. Eine Idee ist nicht schlecht, nur weil sie am Widerstand gewisser Behörden scheitert.
Besonders unsere Begegnungen mit den Menschen in L’Aquila zeigten uns am Ende, wie wichtig es ist, den Blick vom Globalen der Planungsfragen zum Individuellen zu zoomen, den Menschen mit seinen Bedürfnissen ins Zentrum all dieser Themen zu stellen. Eine Architektin sagte nach dem Film, sie wurde wieder daran erinnert, an die kleinen Dinge zu denken, die einen Lebensort ausmachen. Dieses Denken gehe zu leicht verloren im Laufe der Arbeit, weil man sich doch eher um die großen Strukturen kümmere.Eduard Zorzenoni und Sue-Alice Okukubo
Was war denn für euch der beeindruckendste Moment während der Recherche- und Dreharbeiten?
Da gab es so viele: Es war schon während der Recherche absolut umwerfend, auf wie viel Interesse und Unterstützung wir gestoßen sind. Wenn Gottfried Böhm, der als sehr medienscheu gilt, uns sofort zu einem sehr persönlichen Vorgespräch einlädt. Oder wenn uns Vittorio Gregotti trotz seines hohen Alters mit einer unglaublichen Energie empfängt und in langen temperamentvollen Gesprächen sehr offen und auch selbstkritisch von seinen in Jahrzehnten gemachten Erfahrungen und Erlebnisse erzählt, das war dann schon sehr beeindruckend. Leider kann man ja immer nur einen Bruchteil dessen im Film wiedergeben.
Die Planung der Dreharbeiten in den Abruzzen war sehr schwierig. Wir wussten, dass die Zustände, auch Monate nach dem Beben, chaotisch waren. Unsere Produktionsleitung vor Ort war tagtäglich mit neuen widersprüchlichen Informationen konfrontiert. Aber als wir dann dort mit eigenen Augen das Ausmaß an Zerstörung von persönlicher und kollektiver Kultur und Geschichte gesehen haben und, noch schlimmer, die absolute Stille und Verlassenheit der Geisterstädte und Orte erlebten, so ist uns das schon mit einer Intensität an die Nieren gegangen, die schwer in Worte zu fassen ist. “Beeindruckend” ist da nicht der richtige Ausdruck.
Beeindruckend im positiven Sinn jedoch war der Kontakt mit jedem einzelnen Menschen dort: ihre unglaubliche Stärke trotz des großen Leids und der extrem schwierigen Monate, die sie hinter sich hatten, ihr großes Interesse an unserer Arbeit, ihre offene Freundlichkeit und vor allem auch ihre Gastfreundschaft.Architect Gottfried Böhm – Filmstill “The Wounded Brick”
Auf welche Menschen seid ihr bei den Screenings getroffen? Was waren die Reaktionen? Welche Erfahrungen und Erlebnisse habt ihr gemacht?
Wir waren zu Filmfestivals in Rom, Lissabon und Istanbul eingeladen und haben in Deutschland an vielen Diskussionen nach den Screenings teilgenommen.
Natürlich trifft man sehr viele Architekten, Stadtplaner und Soziologen. Aber es kommen nicht nur Fachleute, sondern auch Menschen, die in Bürgerbewegungen für Ihre Bedürfnisse in der Wohn- und Stadtgestaltung eintreten, Menschen, die sich gegen die Gentrifizierung in ihren Städten einsetzen, also der Vertreibung der altansässigen Bevölkerung aus attraktiven Stadtvierteln durch finanzstarke Investoren, oder schlicht und einfach Menschen, die durch den Informationstext des Filmes im Kinoprogramm neugierig geworden sind und sich für das Thema interessiert haben.
Bei den Festivals waren die Reaktionen sehr emotional in einem positiven Sinn. Die Zuschauer haben sofort intuitiv den Transfer zu ihrer eigenen Situation gemacht, ohne dass es nachträglicher Erklärungen bedurfte. Sie waren sehr berührt oder auch ob der Missstände emotional sehr aufgebracht. Es gab auch Tränen. Beim Filmfestival in Rom sprang ein Mann nach dem Film spontan auf, lief zu uns aufs Podium und fing ein leidenschaftliches Plädoyer für eine lebenswertere Stadt an.Deserted city of L’Aquila – Filmstill “The Wounded Brick”
In Deutschland sind die Reaktionen nicht so temperamentvoll, aber deswegen nicht weniger intensiv. Die Fragen und Antworten nach den Screenings sind sehr spannend für uns. Die Zuschauer haben wirklich immer ein starkes Bedürfnis, über ihre Gedanken zum Film zu sprechen. Wir bekommen von allen Seiten das Feedback, dass das ein Film ist, den man nicht einfach konsumiert und wieder zur Tagesordnung übergeht, sondern dass er intensiv nachwirkt. Es gibt so viele Anekdoten. In Berlin kamen nach einem Screening zwei Architekten zu uns, die sich für den Film herzlich bedankt haben. Sie machen Wohnbau für die Superreichen, sind also Teil des “Systems”, aber der Film hätte sie doch intensiv zum Nachdenken gebracht. Architect Vittorio Gregotti – Filmstill “The Wounded Brick”
Wir haben in “The Wounded Brick” mit dem Konzept des Storytellings gearbeitet und die Aussagen nicht auf kurze Statements zusammengeschnitten. Das scheint bei den ZuschauerInnen gut anzukommen, da sie die Möglichkeit spüren, die ProtagonistInnen besser “kennenzulernen”. Vielen fällt die poetische und ruhige Gestaltung des Filmes positiv auf. Der Filmkritiker eines renommierten Cineasten-Magazins hat uns mit der japanischen Regiegröße Ozu verglichen, was natürlich ein absolut schönes Kompliment ist.
In Christchurch, Neuseeland, das auch ein schweres Erdbeben hinter sich hat, waren wir beim Screening zwar nicht dabei, bekamen aber danach viele E-Mails von ZuschauerInnen, die sich besonders durch die Thematik des fehlgeleiteten Wiederaufbaus nach dem Erdbeben angesprochen gefühlt haben.
In kleineren Städten, in denen das Thema der Gentrifizierung noch nicht so dringlich ist, interessieren sich die Menschen sehr für die Thematik der Gestaltung ihrer Orte. Es scheint, als würde der Film viele verschiedene Anknüpfungspunkte bieten.Architect Friedrich von Borries – Filmstill “The Wounded Brick”
Habt ihr für euch eine Antwort auf die Fragen, die euer Film aufwirft, gefunden?
Wir haben von Anfang an nicht an eine einzige heilsbringende Antwort geglaubt. Und auf jeden Fall geht es nicht um eine einfache schwarz-weiß Malerei, um die Frage, wer sind die Guten und wer die Bösen, obwohl das natürlich die einfachste Art von Antwort wäre.
Eine Antwort haben wir in dem Engagement aller Beteiligten gefunden, in ihrem Denken, in der Vielfalt der Vorschläge und in den Visionen.
Eine andere Antwort haben wir in der unbedingten Notwenigkeit eines Dialogs zwischen den verschiedenen Beteiligten gefunden, und darin, dass die BürgerInnen mehr und mehr Interesse und Verantwortung in diesem Prozessen übernehmen, damit ihre Bedürfnisse und Wünsche nicht nur gehört, sondern zum Ausgangspunkt werden.
Vielleicht werden wir selbst zu einem kleinen Teil einer Antwort, wenn unser Film Fragen aufwirft und Diskussionen auslöst und wenn wir so zu diesem Dialog beitragen können.
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