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October 29, 2014

Unbequemer Forscher: Gareth Kennedy wühlt in Südtirols Vergangenheit

Kunigunde Weissenegger

Fünf Mal ist er im Laufe der einjährigen Forschungsresidenz angereist, hat Bekanntschaften geknüpft, Beziehungen aufgebaut, Menschen zusammengebracht. Er hat gesucht, geforscht, gebohrt, gefragt. Geschichten von toten und lebendigen Menschen aufgedeckt. Das Ergebnis der Nachforschungen des Künstlers Gareth Kennedy, der übrigens 2009 Irland auf der Biennale in Venedig vertreten hat, ist unter dem Titel “Die Unbequeme Wissenschaft – The Uncomfortable Science” bis 15. November 2014 in der ar/ge kunst Galerie Museum in Bozen zu sehen. 

“Gestartet ist die Zusammenarbeit mit Gareth Kennedy im Mai 2013,” erzählt Emanuele Guidi. – Dem neuen (seit Frühjahr 2013) künstlerischen Leiter ist es wichtig, dass sich die Arbeit der Galerie stets im Dialog und Austausch mit ihrer unmittelbaren Umgebung befindet – lavorare sul territorio steht für den Wahlberliner aus Massa Carrara im Mittelpunkt – ohne die gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklungen aus den Augen zu verlieren. “Wenn wir uns vorgenommen haben, tief in ein Thema einzusteigen und uns intensiv damit zu beschäftigen, so müssen wir bereit sein, Zeit zu investieren – und Oberflächlichkeit, schnelles Blicken und Arbeiten vermeiden”.

Brauchtum und Tradition, Volks- und Populärkultur sind die Themenbereiche, mit denen sich Gareth Kennedy in seinen Forschungsprojekten beschäftigt (hier ein weiteres Projekt von ihm in Russland und hier ein anderes in Irland). Südtirol und seine (belastete) Geschichte ist somit nicht der schlechteste Ausgangspunkt für den irischen Künstler: deutschsprachig, nach dem 1. Weltkrieg von Italien annektiert, mit einer spannungsgeladenen Vergangenheit, Anwendungsgebiet ideologisch kompromittierter Wissenschaften – italienische Geographen und österreichische Ethnologen erzeugten gleichermaßen Mythen der “wahren Ursprünge” von Ort und Bevölkerung.Gareth Kennedy - ar/ge kunst BozenSchicht um Schicht hat sich Gareth Kennedy vorgearbeitet und ist durch die verschiedenen Anhäufungen der Südtiroler Geschichte tiefer gedrungen. Wichtige Bezugspunkte und wertvolle Quellen waren ihm hierbei unter anderem die Website des Anthropologen und Filmemachers Franz J. Haller aus Meran (www.tirolerland.tv), die wissenschaftliche Publikation “Tyrol or Not Tyrol: Theatre as History in Suedtirol/Alto Adige (Cultural Identity Studies) von Nora de Buiteleir aus dem Jahr 2013 sowie Künstler und ar/ge-kunst-Vorstandsmitglied Josef Rainer.  

Fast wie Jagdtrophäen hängen sie an der Wand, durchdringen mit ihren Blicken Wände und lesen unsere Gedanken (?). Auf der schwarzen Seite: Richard Wolfram, Leiter der “Kulturkommission” (einige seiner teils skurrilen – da zumeist übertrieben arrangiert – Filme findet ihr auch online hier); der Ethnomusikologe Alfred Quellmalz; der Fotograf Arthur Scheler und, im hintersten Eck, etwas versteckt, Ettore Tolomei, italienischer Faschist, Geograph und Irredentist. An der weißen Wand: der Anthropologe Bronislaw Malinowski – häufiger Urlaubsgast in Südtirol und Kritiker der Tatsache der Anwendung anthropologischer Forschung von Europäern auf Europäer, da er dies als ideologisch kontaminiert ansah. Geschnitzt wurden die fünf Köpfe von fünf Maskenschnitzern aus Südtirol – einige schnitzen übrigens auch Krampus- und Egetmann-Masken. – …wer oder was verbirgt sich hinter diesen Fratzen…?
Wie wissenschaftlich sind nun die Köpfe an der schwarzen Wand vorgegangen? – Was von dem, was sie zur Überlieferung festgehalten haben, wurde von ihnen und den Nazis inszeniert und von dem gereinigt, was nicht ihren und den nationalsozialistischen Vorstellungen von Brauchtum sowie ihren Rassentheorien entsprach? Und abgesehen davon, dass alle in Holz gehauen an den Wänden der ar/ge kunst hängen, haben die fünf auch gemeinsam, dass sie in Südtirol bisher noch nie den Weg auf eine Theaterbühne gefunden haben. – Die Frage ist also auch: Was ist Tabu? Worüber darf gesprochen werden? – Eine “unbequeme” Epoche zieht Masken auf und bekommt gleich mehrere Gesichter… – wobei wir wieder beim Theater wären…Stubenforum ar/ge kunst BozenStubenforum @ ar/ge kunst Bozen, 20.9.2014, mit Georg Grote (University College Dublin), Franz J. Haller (Experte für Visuelle Anthropologie, Meran), Thomas Nussbaumer (Universität Innsbruck), Hannes Obermair (Stadtarchiv Bozen), Ina Tartler (Vereinigte Bühnen Bozen), Elizabeth Thaler (Vereinigte Bühnen Bozen), moderiert von Hans Karl Peterlini (Journalist und Autor, Bozen). [Foto: Verena Spechtenhauser]

Gezeigt werden in der ar/ge kunst auch die oben erwähnten Fotos und Filmmaterialien der “Kulturkommission” der SS-Studienorganisation “Ahnenerbe”, die in Südtirol zwischen 1939 und 1942, zur Zeit der Option aktiv war (die “Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e.  V.” war eine zentrale archäologische und kulturgeschichtliche Institution im “Dritten Reich”). In der vielleicht größten volkskundlich-linguistischen “Feldforschungsaktion” der Geschichte, dokumentierte die sogenannte Kulturkommission erschöpfend die modischen, sprachlichen, populärkulturellen und musikalischen Bräuche der alpinen Bevölkerung. – Ihre Kultur sollte erhalten und ihnen nach der Umsiedelung in die Tatra, nach Burgund oder auf die Krim wieder zugänglich gemacht werden – Anthropologie als politisch verordnete Bergungsaktion. – Auf den Fotos und Filmen sind Bilder inszenierter Tradition und wiederbelebten Brauchtums zu sehen. – Wie “wissenschaftlich” waren die Forscher, wie ernst sind die archivierten Bildmaterialen zu nehmen? – …alles Theater?!

Bei seiner Recherche ist der irische Künstler in Südtirol natürlich auch auf die Stube gestoßen – seit je her ein Raum für die Familie, deren gemeinsame Tätigkeiten sowie auch für das Laientheaterspiel (– schon wieder Theater!). Der in London lebende Meraner Designer Harry Thaler hat Gareth Kennedys Idee von der Stube für die Ausstellung in die Tat umgesetzt. Eine Stube steht Kopf – die Wissenschaft auf den Kopf gestellt: Brauchtum versus Inszenierung. Was ist Tradition? Was davon ist erfunden? Wo fängt die Instrumentalisierung einer Volkskultur an? Was ist Identität? Welche Rolle spielt das Territorium? Wie hoch ist der Einsatz? Wer verfolgt welche Interessen?… – Zusammengefasst werden können alle diese Aspekte unter dem Begriff Folk Fiction – ein Punkt, der für Gareth Kennedy im Zusammenhang mit der Erforschung von Volks- und Populärkultur von größter Wichtigkeit ist. – Wie unbequem muss Wissenschaft sein, damit wir sie ernst nehmen können…? – …bis der Vorhang fällt…

Auf dem Foto oben: Gareth Kennedy mit der Maske von Alfred Quellmalz, Ethnomusikologe im Auftrag der Südtiroler “Kulturkommission” der SS-Studienorganisation “Ahnenerbe”; Maske geschnitzt von Lukas Troi

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