Culture + Arts > Visual Arts
October 13, 2014
von traeumen und irren raeumen bei peter granser
daniel brandlechner
ich schreibe ueber j’ai perdu ma tête, ein photobuch von peter granser, das in diesem jahr bei der edition taube erschienen ist. die aufnahmen stammen aus dem centre hospitalier spécialisé de navarre à évreux, einem sanatorium in der provence in suedfrankreich.
es ist ein sehr stilles buch, wie ich es in meinen haenden halte. abwaegend. es vergleiche mit anderen gegenstaenden, die in meiner naehe daliegen. ein stein. ein messer. ein lineal. etwas geld.
es ist ein sehr stilles buch! obwohl – recht groß gewachsen: 32 x 23 cm, 104 seiten.
habe denn auch ich meinen kopf, meinen verstand verloren?, faehrt es mir durch den kopf und ich beginne zu blaettern. die bilder von peter granser erzeugen ein wahnsinniges gefuehl von ordnung, von struktur. eine waescheklammer haengt als fledermaus von der decke. sehr viel weißer raum liegt dazwischen. die kahlen waende schreien mich beinahe an! aber keine buchstaben, kein wort, nichts – ein reines photobuch. der stuhl wirft einen rauen schatten an die wand. die wiederkehr deformierter skulpturen. abbildungen von bildern, als sei alles eine kopie einer kopie einer kopie (…). so schoen, sage ich. so schoen.
risse im beton. die mauer wurde wohl eingeschlagen. das bild ueberzeugt mit seiner fragilen praesenz. dann, ein buntes zimmer, ein benuetztes leinentuch im anschluss. ein schwacher lichtstrahl erfuellt den kargen raum. ein leeres, weißes doppelblatt erfuellt die seite, bringt den umbruch. das ist sehr wichtig! die decke steht in mustern. eine landschaft; kahl, aber gruen. mehrere portraitierte innenaufnahmen. eine fernaufnahme. die nahaufnahme. alles, das ist alles! in beziehung setzen, denke ich: die skulpturen und die figuren. ploetzlich, der selbe kopf auf einer doppelseite in orange. ausgebrannte augen. die bewegungen der figuren im raum, eine außenaufnahme der gruenflaeche, schrei, der! die deckenbeleuchtung flackert, wirkt bedrohlich, auch beweglich. alles, das ist alles!peter granser ist oesterreicher, in hannover geboren und lebt heute in stuttgart. nach publikationen wie alzheimer (2005), sun city (2006) oder was einem heimat war (2012) ist j’ai perdu ma tête (2014) bereits sein siebtes photobuch. erschienen ist es beim verlag fuer zeitgenoessische kunst und meinung edition taube.
wahnsinn nach foucault. wo liegen die grenzen, wo werden sie angesetzt und von wem? diese fragen wurden nicht gestellt und werden nicht beantwortet. granser zeigt in wunderschoenen bildern das eigentlich eindruckslose, das beinahe normale am bewusst erlebten wahnsinn. das sind viele innen- und außenaufnahmen von raeumen mit einer liebe zur geometrie und ordnung, das sind anthropologische skulpturen, das sind einige portraitaufnahmen der patienten. so wird der wahnsinn zu einer form des lebens neben anderen kompensiert. er wird eingegliedert, akzeptiert und normalisiert. die scheinbar irren wirken menschlich. ihre raeumlichkeiten wirken raeumlich.
fuer einige portraits waehlt granser eine nahaufnahme, mit welcher koerperliche eigenschaften der personen markant hervortreten. die traenensaecke erzaehlen geschichten, die gesichter werden lesbar.analog dazu ist das gesamte buch mit deformierten skulpturen durchzogen. die muender haengen unproportional in den gesichtern. die augen sind ausgebrannte andeutungen der leere und der stille. sie koennen als abstrakte verbildlichung des wahns gelesen werden. oder auch nicht.
denn so haesslich sieht es dann nicht aus, seinen kopf zu verlieren; aesthetisch aber schon, sehr sogar, wird der wahnsinn durch den filter eines so wunderschoenen kunstbuches betrachtet, wie es j’ai perdu ma tête ist. wohlverdient traegt es den stempel der stiftung buchkunst, eines der fuenf schoensten kunstbuecher deutschlands zu sein.
J´ai perdu ma tête
Peter Granser
Edition Taube / Marraine Ginette Éditions
2014
hardcover
4c offset print, spot finish
3 inserted leporello posters
32 x 23 cm
104 pages
ISBN 978-3-9814518-6-3
34 Euro
Alle Fotos von Peter Granser
Comments