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September 30, 2014
“Ich muss wiederkehren” – Sissa Micheli, Artist in Residence in London
Kunigunde Weissenegger
Bis gestern war und arbeitete sie für drei Monate im Rahmen des Stipendiums “Auslandsatelier künstlerische Fotografie 2014″ des Bundeskanzleramtes BKA Österreich in London. Sissa Micheli ist 1975 in Bruneck geboren, lebt, studiert und arbeitet seit ihrem 19. Lebensjahr Wien. 2007 hat sie nach der zweijährigen Schule für künstlerische Photographie an der Akademie der bildenden Künste Wien bei Prof. Franz Graf, Gunther Damisch und Matthias Herrmann das Diplomstudium abgeschlossen.
Ausgestellt hat Sissa Micheli ihre Arbeiten unter anderem in der Galerie Luciano Fasciati in Chur, im Künstlerhaus KM – Halle für Kunst und Medien in Graz, in der Galerie Bäckerstraße4 in Wien, im Project Space der Kunsthalle Wien, im MUSA in Wien, in der Galerie Kunst Merano Arte und im Museion in Bozen sowie bei diversen Gruppenausstellungen. Weitere Künstlerresidenzen hat sie in Paris, New York und Salzburg verbracht. Die facettenreiche Künstlerin arbeitet nicht nur fotografisch, sondern auch performativ, setzt in ihren Arbeiten auf Irritation und Inszenierung. Künstlerin zu sein bedeutet für sie, auf den Grund zu gehen, über den Tellerrand zu blicken, an Grenzen zu stoßen, Fragen aufzuwerfen, Dinge zu hinterfragen und sozialkritisch zu agieren. Wir haben Sissa Micheli an einem ihrer letzten Tage ihrer London-Residenz erreicht und mit ihr über die Wichtigkeit von KünstlerInnen-Residenzen, ihre Arbeitsweise und natürlich ihre Zeit in London gesprochen.Sissa Micheli: Soapboxing in a capitalist world
Sissa, wie sind deine Tage als Artist in Residence verlaufen?
Ich habe in einem Londoner Haus mit Garten in Bow in East London in der Nähe des Queen Elizabeth Olympic Parks gewohnt, welcher anlässlich der Sommerolympiaden und Paralympics 2012 errichtet wurde, und des eher traditionellerem Victoria Park. Das war schon ein großer landschaftlicher Kontrast, zumal der Queen Olympic Park noch eine Baustelle ist. East London ist eine Gegend, in welcher viele KünstlerInnen leben. Da mir ein Atelierstipendium für Fotografie zugesprochen wurde, fokussierte ich in erster Linie wieder sehr auf die Fotografie, von der ich mich in letzter Zeit etwas entfernt hatte. In der ersten Hälfte meines Aufenthalts habe ich den Garten wiederbelebt und die Stadt mit dem Fahrrad erkundet, d. h. ich bin ca. 4 Stunden am Tag durch die Straßen Londons gefahren, um geeignete Orte für meine Fotografien zu finden.
Ich habe die Morgenstunden im Garten verbracht: Ich las und entwickelte neue Ideen. Mein Alltag in London bestand aus Philosophie, Recherche, der Besichtigung von Museen und Galerien, Netzwerken, Austausch mit KünstlerInnen und künstlerischem Schaffen, Kochen und Gartenarbeit. Ich bin auf Ausstellungseröffnungen, wie zum Beispiel die von Gilbert & George im Whitecube in Bermondsey gegangen und habe Konzerte, wie jenes von Robert Plant im Roundhouse, besucht. Am Abend bin ich gelegentlich mit Freunden fortgegangen.Sissa Micheli, Gilbert & George at White Cube, Bermondsey, 17 July 2014
Wie hat dich die “andere” Umgebung und Luft beeinflusst? Was hat dir London gegeben?
Ich habe mich in einem Ausnahmezustand befunden, da ich neben der Kunst nicht für Geld arbeiten musste: “I’m not working for the dog”, wie man in London so schön sagt. Ich hatte endlich mal Zeit zum Recherchieren und musste nicht unter Druck arbeiten. Das ist für mich Lebensqualität. Ich bin total aus meiner Routine in Wien rausgerissen worden und habe mich langsam eingelebt, sodass ich mir vorstellen könnte, in London ein zweites Standbein aufzustellen, aber ich bin mir über die hohen Mieten bewusst. Was mir London gibt, ist Weltoffenheit und neue Perspektiven: Durch die Internationalität sind die Leute unglaublich offen und höflich (gentle) – das beeindruckt mich sehr. London ist ein Schmelztiegel an Kulturen und man kommt mit Leuten anderer Länder leicht ins Gespräch. In Wien würde ich nie eine Frau in der Burka im Bus ansprechen… Dann gibt es in London noch dieses unglaubliche Licht, und der Kontrast aus Ziegelsteinarchitektur und futuristischen Gebäuden. Der technische Fortschritt ist viel präsenter: in Annoncen, in der Kommunikation und auch in der Kunst. Die Schnittstelle zwischen Kunst und Technologie bzw. Wissenschaft steht in London stark im Zentrum. Wie unterscheidet sich die Londoner Szene von der in Wien, wo du sonst lebst?
In London gibt es so viel mehr Kunst, Musik, Mode und Theater und gute Küche – das heißt, die Palette ist unglaublich groß. London ist die Stadt der Milliardäre, der Kunstmarkt ist sehr präsent und die Kunst viel kommerzieller: Man kann auch bei Saatchi Gallery oder in der Whitechapel Editionen von Künstlern um Schnäppchenpreise erwerben. Die Museen zeigen großartige Künstler und der Eintritt ist frei. – Das ist schon ein Luxus. – Einerseits gibt es die hochrangigen Galerien in Mayfair und andererseits zahlreiche Galerien in South und East London, die auch mittelmäßige, unreflektierte Kunst ausstellen. Solche Galerien überleben in Wien kaum. Die urbane Gegend, sowie die Galerienszene ändert sich in London sehr schnell. Wo einst eine Galerie war, ist jetzt ein Bäcker eingezogen und in Hackney Wick ziehen viele Künstler hin, was wahrscheinlich wieder eine Gentrifizierung zur Folge hat. Einige Stadtteile, wie Shoreditch, sind teilweise schon so hipp, dass sie zum Hipster-Mekka geworden sind. Die Londoner sind übersättigt vom “supercoolen Möchtegern”, aber gleichzeitig wird die Stadt immer unerschwinglicher und nivellierter. In 5 Jahren wird Shorditch ein Reichen-Ghetto voller Bankiers sein, die denken, sie haben etwas Alternatives entdeckt. Sissa Micheli: Clouds and meteorites
Wir sind neugierig: Verrate uns bitte etwas über deine Arbeiten, die du gerade im Rahmen des Stipendiums produziert hast… – Und: wie arbeitest du?
Es sind mehrere Projekte gleichzeitig entstanden. Ich habe mir Zeit genommen, habe mich auf die Stadt eingelassen, um neue Arbeiten zu erschaffen. Zum einen habe ich einen Garten angebaut, in welchem ich in der Nacht kleine Objekte mit britischer Vergangenheit wie eine Londoner Landkarte, Encyclopedia Britannica aus dem Jahre 1878 und Elemente aus der britischen Armee des 19. Jahrhunderts beleuchte und fotografiere. Sie scheinen von einer vergessenen Welt und können durch Kraterlöcher bewundert werden.
Ein weiteres Projekt ist die Fortsetzung meiner Installation aus rotierenden Bergen aus silbernen Rettungsdecken: Ich habe eine Form zwischen Wolke und Meteorit entworfen, welche ich im Schwebezustand vor der urban-industriellen Landschaft des Queen Elizabeth Olympic Park fotografiert habe. Es ist auch ein narratives Video an der Schnittstelle zwischen Fotografie und Video “On the Process of Shaping an Idea into Form through Mental Modeling” entstanden und ich habe auch eine Arbeit über das Soapboxing in Speakers’ Corner mit einem Bezug zum Film “The Chimes of Big Ben”, einer Episode der allegorischen Science-Fiction Serie “The Prisoner” aus dem Jahre 1967, umgesetzt. Paris, New York, Salzburg und nun London. Wie wichtig sind Auslandsaufenthalte und Stipendien für dich? – Ist es nicht auch nervenaufreibend – am Ende der Residenz müssen KünstlerInnen ja zumeist etwas präsentieren – und da diese Aufenthalte durchschnittlich 1–2–3 Monate dauern, verlangt es von den ihnen Flexibilität. Wie könnte eine neue Art von KünstlerInnen-Residenz aussehen?
Ich finde Künstlerresidenzen sind enorm wichtig, zumal sie Abstand zum Altbekannten bedeuten und neue Impulse geben. Sie reissen eine neue Welt auf. Man spricht eine andere Sprache und erfindet sich selbst auch neu. Allerdings arbeite ich in meinem gewohnten Umfeld sehr gut und in einer neuen Stadt muss man sich erst eingewöhnen und sich neu organisieren. Ich bin gewöhnt, das Labor am Eck zu haben und komme in Wien viel leichter an Equipment und Material als hier. Also bin ich gezwungen, kleinere Projekte zu machen, und muss mich damit begnügen. Am Ende des Aufenthalts habe ich eine Präsentation abgehalten; die habe allerdings ich mir gewünscht, damit ich auf etwas hinarbeiten kann. Ich finde KünstlerInnen-Residenzen mit einer Präsentation und einem Netzwerk essentiell. In London ist das nicht so gegeben, d. h. der Künstler fühlt sich ein bisschen in einem Vakuum, wenn er/sie nicht selbst aktiv wird.
Wie wichtig ist es dir, auch immer wieder in deinem Herkunftsort deine Arbeiten zu zeigen? – Kürzlich zum Beispiel auf der Medienfassade des Museion in Bozen oder die Ausstellung Born in the Dolomites in Bruneck…
Es freut mich immer wieder ortsspezifische Arbeiten entwickeln zu können, wenn ich dazu eingeladen werde. Ich hole mir viele Impulse auch aus meinem Herkunftsort. Zur Zeit arbeite auch an einer Serie an rotierenden Bergen aus Rettungsdecken.
Was kommt nach der Residenz in London?
Die Rückkehr nach Wien. Es stehen einige Ausstellungen an, unter anderem eine Gruppenausstellung in Chur in der Schweiz, in Niederösterreich und im Kunsthaus Nexus Saalfelden, in Paris und ich habe noch viele Ideen, die ich in London realisieren möchte. Das bedeutet, ich muss wiederkehren.
Foto oben: Sissa Micheli © Dan Bachmann
Alle weiteren Fotos mit Ausnahme des 3.: Sissa Micheli
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