Die Wahrheit über das Ungeheuerliche. “Das Fest” bei den Rittner Sommerspielen
Stell dir vor, du brichst ein Tabu. Das sollte in unserer Zeit nichts Neues mehr sein. Wo wir doch alle davon reden, dass wir offen sind, dass wir über alles reden können, dass wir nichts mehr verschweigen möchten. Doch Offenheit ist eine schwierige Sache. Auch das Theaterstück DAS FEST handelt von einem Tabu-Bruch. Klar, dass der Zuschauer dem kritisch gegenüber steht.

Schon vor meinem Besuch bei den Rittner Sommerspielen stoße ich auf verschiedene Meinungen zu den laufenden Aufführungen. Da sind die, denen das Stück gefallen hat. Näheres möchte ich gar nicht erfahren, auch wenn sie es gerne erzählen würden. Und dann gibt es da diese Stimme, die vom Theater als nicht angemessen, übertrieben, obszön spricht. Die den anderen sagt, dass sie im Nachhinein nie mehr das Geld für eine Karte ausgeben würde. Ich riskiere trotzdem einen Besuch.
1. Versuch: 8. August 2014. Ich bin pünktlich, hole meine Karten, sehe mir die Ausstellung im Obergeschoss der Kommende in Lengmoos am Ritten an. Um 9 Uhr dann die schlechte Nachricht: Leider ist die Aufführung abgesagt, der Hauptdarsteller kann nicht spielen.
2. Versuch: 12. August 2014. Derselbe Ablauf, nur die Ausstellung lassen wir diesmal aus. Genau um 5 vor 9 beginnt es zu regnen. Das ist für ein Freilichttheater der Tod. Wir warten und warten. Eine halbe Stunde später wird die Aufführung abgesagt, dafür aber auf die zusätzlichen zwei Tage darauf verwiesen.
3. Versuch: Also finden wir uns am 14. August noch einmal in der Kommende in Lengmoos wieder. Beinahe tut es mir am Morgen schon leid, dass wir Karten vorgemerkt haben. Aber am Abend spielt das Wetter zum Glück mit, auch wenn die Anwesenden dicke Jacken und Decken gegen die Kälte brauchen. Herzlich willkommen zu den Rittner Winter… äh… Sommerspielen, wird dann auch richtigerweise gesagt.
Das Stück selbst hält, was der erste Blick auf den Inhalt verspricht. Da sind die Familienmitglieder und Besucher, die für die Geburtstagsfeier eintreffen. Die Geladenen und die weniger Willkommenen. Da ist der Hausherr, Helge, der prächtig feiern will. Da wird aufgetischt und gleichzeitig werden Reden gehalten auf den 60. Geburtstag. Nur, dass das harmonische und idyllische Bild bald gebrochen wird. Ob sie nicht gewusst oder verheimlicht, ob verschwiegen oder ignoriert war – die Wahrheit will gesagt werden, und so spricht Sohn Michael das an, was ihn schon lange quält. Seine Tischrede beginnt mit “Wenn Vater ins Bad wollte…” und erzählt allen Anwesenden offen und schonungslos, dass sein Vater ihn und seine Zwillingsschwester Linda in ihrer Kindheit wiederholt missbraucht hat. Michael spricht auch vom Schweigen der Mutter, die Bescheid wusste. Es ist eine Anklage, und es ist eine Befreiung für ihn, nach all den Jahren aus dem Schatten zu treten. Vielleicht ist es auch Rache an dem Mann, der perfekt erscheinen will, und dessen zweite Seite kaum jemand kennt. Die Kraft für diesen Auftritt hat Michael nach dem Tod – dem Selbstmord – Lindas gefunden. Doch wird ihm die Festgemeinschaft glauben? Zuerst wird nur geschwiegen. Der Christian war schon immer ein wenig komisch, um nicht zu sagen wirr im Kopf, und die Feier geht weiter.
Langsam wird das Thema aber unangenehm, Christian spricht wieder und wieder davon und ganz wohl ist ihnen nicht bei dem Gedanken an das Ungeheuerliche, das sich damals abgespielt haben soll. Als dann noch ein Brief auftaucht, in dem Christians Zwillingsschwester schreibt, dass Vater beginnt, ES wieder zu tun und dass sie sich aus diesem Grund das Leben genommen hat, geht das heiter begonnene Fest abrupt zu Ende.
Dass sich eine Südtiroler Freilichtbühne an ein solches Stück wagt, ist eine Seltenheit, bekommen wir doch sonst die gewohnten Heimatstücke und immer gleichen Abläufe zu sehen. Doch ist auch ein wenig Bekanntes dabei: Es wird größtenteils im Dialekt gespielt. Da Gerd Weigel, der Regisseur, auch die Rolle des Christian übernommen hat, spricht er als einziger Hochdeutsch und Umgangssprache. Was sich zu Beginn seltsam anhört, klingt aber im Laufe des Stückes immer weniger auffällig. – Gewöhnungssache. Auch die Mischung der Schauspieler ist ungewohnt, denn nur wenige Stücke werden von Profi-Darstellern in Zusammenarbeit mit Amateuren auf die Bühne gebracht. Die Bühne selbst ist schlicht gehalten, schwarz trifft auf weiß; ein angenehmer Hintergrund, der weder den Schauspielern noch der Dramatik des Stückes die Show stiehlt.
Immer wieder erstarren die Schauspieler im Dunkeln, um dann doch im Licht weiterzuleben, ungeachtet ihrer Schwächen und der Gesellschaft, die ihren eigenen Verfall nicht erkennt. Nur wenige können sich befreien, wenn der Schmerz sie dazu drängt. Am Ende gewinnt die Gewissheit Oberhand, doch das Gewissen selbst hat nicht gesiegt.
Foto: Ulrich Kofler